Rafael Reif, Präsident des Massachusetts Institute of Technology (MIT), Bild: Gaetan Bally
"Wichtigste Erfindung seit dem Buchdruck", NZZaS, 1.2. von Michael Furger
NZZ am Sonntag: Herr Reif, einer Ihrer Professoren, der Computerwissenschafter Alex Pentland, sagt, das MIT sei «das Zentrum des Innovations-Universums». Stimmen Sie zu?
Rafael Reif: Wie könnte ich anderer Meinung sein?
Weshalb ist das MIT das Zentrum aller Innovationen?
Vielleicht ist der Begriff etwas übertrieben, aber er bedeutet, dass wir ununterbrochen an die Zukunft denken. Wir stellen sie uns aber nicht nur vor. Wir wollen sie gestalten. Das MIT ist eine Zukunftsmaschine.
Denken Sie auch darüber nach, wie Ihre eigene Zukunft als Universität aussieht?
Pausenlos. Diese Zukunft heisst digitales Lernen. Es ist die wichtigste Innovation in der Bildung seit der Erfindung des Buchdrucks.
Das müssen Sie erklären.
An unseren Schulen und Universitäten wird im Grunde immer noch unterrichtet wie vor fast tausend Jahren. Wir haben zwar die Technik verbessert. Früher gab es nur Wandtafeln und Kreide, jetzt nutzen wir grosse Bildschirme und Powerpoint-Präsentationen. Aber die Situation blieb gleich: Es ist ein Unterricht in einem Klassenzimmer. 20 oder 200 Menschen hören jemandem zu, der doziert. Sie lernen passiv. Digitale Anwendungen ermöglichen nun, die Schüler und Studenten ganz anders zu erreichen.
Wie?
Es gibt viele Dinge, die man als Student besser mithilfe von digitalen Lernprogrammen lernen kann als in einer Vorlesung. Der Vorteil ist, dass der Student die Programme nutzen kann, wo und wann er will. Er lernt, wenn er motiviert und aufnahmefähig ist. Damit wird an der Universität Zeit frei für die teurere und wertvollere Art des Lernens: für den persönlichen Austausch. In den nächsten zehn Jahren erleben wir eine Revolution im Bildungswesen.
Wie werden die Universitäten nach dieser Revolution aussehen?
Ich kann Ihnen nur sagen, wie das MIT in zehn Jahren aussehen wird, aber ich glaube, viele Universitäten weltweit werden ähnlich aussehen. Die Ausbildung bei uns besteht aus drei Komponenten. Erstens: das Lernen von bestehendem Wissen. Zweitens: das Verbessern von bestehendem Wissen. Drittens: die Anwendung des Wissens, um etwas Neues zu schaffen. Den letzten Punkt nennt man Innovation. Digitales Lernen können wir nur für den ersten Teil nutzen. Aber wir gewinnen damit mehr Zeit für die beiden anderen Komponenten.
Was heisst das für den Alltag der Studenten?
Wenn das reine Vermitteln von Informationen künftig digital erfolgt, lernt der Student zuerst für sich und geht erst dann in die Vorlesung. Der Professor sagt dann: «Ihr habt euch dieses Wissen angeeignet. Ich habe folgendes Problem, das es zu lösen gibt.» Es wird neue Modelle fürs Studium geben, zum Beispiel ein hybrides Modell, in dem Sie als Student vielleicht drei Monate lang zu Hause mit digitalen Programmen lernen. Daneben können Sie Ihrem Job nachgehen. Dann gehen Sie für einen Monat an die Universität und lernen im Klassenzimmer oder im Labor die Anwendung. Im reinen Online-Modell werden Sie ausschliesslich zu Hause bleiben und virtuell lernen. Diese neuen Modelle wird es in Zukunft geben, und sie werden so erfolgreich sein wie das klassische Studium an einer Universität.
Wer zu Hause alleine lernt, dem fehlt der Kontakt zu Mitstudenten und den Professoren.
Digitale Lernangebote werden dereinst in der Lage sein, auf virtueller Basis soziale Interaktion herzustellen, die so effektiv sein wird wie die reale Interaktion an der Universität. Heute sage ich: Virtuelles Lernen funktioniert gut, doch die klassische Ausbildung mit Präsenz an der Uni ist immer noch das beste Modell für ein Studium. Aber ob ich das in zehn Jahren auch noch sagen werde, weiss ich nicht. Wir haben mit unserer digitalen Lernplattform gesehen, wie sich Studenten untereinander organisieren und Probleme lösen - alles virtuell.
Wie zum Beispiel?
Ein 17-jähriger Schüler in Indien hat bei uns einen Online-Kurs zu Elektronik besucht. Er schloss ziemlich gut ab und wollte den Nachfolgekurs besuchen. Doch diesen Kurs gab es als Online-Version noch nicht. Der Schüler wusste aber, dass wir sämtliches Material von allen unseren Lehrveranstaltungen über Internet frei zugänglich machen. Er hat zwei andere Kursteilnehmer kontaktiert - einer lebt auch in Indien, der andere in Kanada -, und gemeinsam haben sie einen Code für eine Lernplattform geschrieben. Sie haben unser Material heruntergeladen, eingefüllt und als Kurse weltweit angeboten. 1100 Leute schrieben sich ein. Wir haben den Schüler aus Indien natürlich als Studenten zu uns ans MIT geholt. Er ist sehr talentiert.
Er hat Ihr Material genutzt für ein eigenes Angebot. Ist Ihnen das egal?
Unser Material ist Wissen. Und Wissen gehört nicht uns, sondern der ganzen Welt. Alle können es nutzen, kostenlos. Aber was das Beispiel zeigt: Heute sind talentierte Leute in der Lage, gemeinsam Probleme zu lösen, ohne sich je gesehen zu haben. Dass es eines Tages soziale Interaktion im virtuellen Raum geben wird, die so gut ist wie die reale Interaktion an einer Universität, ist keine Frage des Glaubens. Es wird passieren.
Es gibt Universitäten, auch in der Schweiz, die nicht an die Zukunft der Online-Kurse glauben. Die Kurse würden überschätzt und seien eine Modeerscheinung. Was sagen Sie dazu?
Wir reden hier von sogenannten Moocs: massive open online courses, frei zugängliche Fernkurse für alle. Daneben gibt es noch andere digitale Lernprogamme, solche, die beispielsweise nur für eingeschriebene Studenten einer Universität zugänglich sind. Die Technologie von Moocs erlaubt es aber, dass sich diese Kurse erstens den Bedürfnissen der Teilnehmer anpassen, und zweitens, dass viele Menschen an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit das Gleiche lernen können. Wenn nun jemand sagt, Moocs seien am Verschwinden oder seien nur eine Modeerscheinung, dann sage ich: Solche hochstehenden Kurse werden von Hunderttausenden, zum Teil von Millionen von Studenten absolviert. Das kann nicht nur eine Mode sein. Online-Lernen ist eine mächtige Innovation. Menschen auf der ganzen Welt werden es nutzen. Global tätige Unternehmen werden es nutzen, um ihre Angestellten in verschiedenen Erdteilen zu schulen. Sie werden nicht verschwinden, sondern Teil unseres Lebens werden.
Die Universitäten haben also keine Wahl?
Die Universitäten sollten sich ernsthaft damit beschäftigen, wie sie dieses mächtige Instrument nutzen können, um das zu verbessern, was sie anbieten. Wenn sie das nicht tun, dann werden die neuen Modelle des Lernens sie überrollen. Denn diese neuen Modelle bieten ein viel aufregenderes Lernumfeld. Es ist Wunschdenken, dass digitale Lernformen eine Mode sind, die vorbeigehen wird. Sie werden bleiben. In drei bis vier Jahren sind sie Teil unseres Alltags.
Gilt das auch für das Lernen in der Schule?
Wir stellen in Amerika fest, dass die Highschools (die Sekundarstufe vom 9. bis zum 12. Schuljahr, Anm. der Red.) grosses Interesse an diesen Lernformen haben. Unsere Plattform für Online-Kurse bietet bereits Kurse für diese Schulen an. Und einer unserer Absolventen, Sal Khan, hat die Khan Academy gegründet. Sie bietet brillante Online-Kurse für die Sekundar- und sogar für die Primarschulstufe an. Die Möglichkeiten hier sind sehr spannend.
Das MIT stellt seine teuer produzierten Online-Kurse kostenlos zur Verfügung. Wieso?
In den Leitbildern aller Universitäten weltweit stehen immer zwei Dinge: Wissen schaffen und Studenten ausbilden. Das steht auch in unserem Leitbild, aber bei uns stehen noch zwei andere Dinge, die meines Wissens in keinem anderen Leitbild stehen, nämlich, dass wir mit diesem Wissen den grossen Herausforderungen der Welt begegnen und es zum Wohl der Menschheit einsetzen wollen. Unser Ziel ist es, dass die hellsten Köpfe der Welt, die genau das wollen, ans MIT kommen. Im College in Venezuela habe ich aus Lehrbüchern gelernt, die von MIT-Professoren geschrieben wurden. Für mich war klar: Ich wollte dorthin, wo Leute dieses Wissen geschaffen haben. Leute werden in Zukunft zwar nicht mehr aus MIT-Lehrbüchern lernen, sondern aus unseren Online-Kursen. Aber sie sollen weiterhin sagen, ich will Teil dieser Gemeinschaft sein.
Ihre Online-Kurse sind also ein Mittel, um talentierte Leute anzuziehen.
Wir sind weltweit der aufregendste Ort für die klügsten Köpfe. Das wollen wir bleiben.
Haben Elite-Universitäten eine Art Verantwortung für die weltweite Verbreitung von Wissen und Bildung?
Verantwortung ist ein starkes Wort. Aber wir haben jedes Jahr 18 000 Bewerbungen für ein Bachelor-Studium am MIT. Wir können aus Platzgründen jeweils nur 1100 nehmen und müssen vielen Bewerbern absagen, von denen wir wissen, dass sie sehr gute MIT-Studenten wären. Die ganze Welt ist voll von gescheiten Menschen, die Teil dieser Umgebung werden und auf diese Art lernen wollen. Ich will sie alle erreichen, nicht nur jene, die ich zum Studium zulassen kann. Ich sehe das nicht als Verantwortung, aber ich finde, dass Leute, die Potenzial haben und lernen wollen, auch Zugang zu hochstehenden Lernangeboten haben müssen.
Die Frage ist, ob Leute, etwa in Entwicklungsländern, das Wissen aus MIT-Kursen wirklich für ihre persönliche Situation nutzen können. Glauben Sie, dass sie wegen eines Online-Kurses einen besseren Job finden?
Das ist in der Tat ein Problem. In fortgeschrittenen Gesellschaften kann man mehr Wissen oder einen Bildungsabschluss dazu nutzen, seine Jobsituation zu verbessern. Aber wir haben Lernende in jedem einzelnen Land der Welt. Und in vielen dieser Länder gibt es keine Jobs. Wir haben also frustrierte Leute, die hungrig sind zu lernen. Aber es bringt ihnen keine bessere Arbeit. Ich fühle eine Verpflichtung, diesen Leuten zu helfen.
Wie machen Sie das?
Wir bringen ihnen bei, ihren Job selbst zu kreieren, indem sie ein Unternehmen gründen. Wir helfen ihnen zum Beispiel, ihre Umgebung zu analysieren, um festzustellen, wo es Bedürfnisse und Marktlücken gibt. Letzten Frühling boten wir einen solchen Online-Kurs an. 55 000 Menschen nahmen daran teil, 9000 schlossen ab. 50 der Besten holten wir für eine Woche ans MIT, um mit ihnen ihre Firmenidee weiterzuentwickeln. Daraus entstanden bis jetzt drei Unternehmen. Nun läuft der Nachfolgekurs. Es haben sich 70 000 Studenten eingeschrieben aus sämtlichen 193 Ländern der Erde.
Studenten, die Online-Kurse absolvieren, können nicht denselben Abschluss erreichen wie solche, die am MIT studieren. Online-Kurse haben nicht denselben Wert.
Wir haben im Moment zu wenige Online-Kurse, um ein vollständiges Studium online anbieten zu können. Derzeit kann man für eine Serie von Kursen ein Zertifikat erhalten. Wir entwickeln das weiter. Ich glaube aber, in Zukunft wird es zwei Systeme von Zeugnissen an einer Universität geben. Das bekannte System mit Abschlüssen wie Bachelor und Master für das herkömmliche Studium und ein System für Online-Kurse mit Zertifikaten für besuchte Ausbildungsgänge. Diese Zertifikate werden einen Wert haben. Man wird sie für Job-Bewerbungen einsetzen können.
Es wird also nicht möglich sein, allein mit Online-Kursen einen Masterabschluss zu erwerben?
Doch, ich glaube, dass es auch das geben wird. Die Entwicklung geht in diese Richtung. Aber es wird keinen MIT-Masterabschluss geben, den man ausschliesslich über Online-Kurse erreichen kann. Denn ein MIT-Abschluss heisst, dass man Teil war dieser Gemeinschaft auf dem MIT-Campus, auf dem man sich mit anderen Leuten austauscht und voneinander lernt. Diese Umgebung können wir nicht ins Netz übertragen. Sollte ich irgendwann einen Weg finden, dann wird es MIT-Abschlüsse für Online-Kurse geben. Wir müssen uns weiterentwickeln, wenn wir der Magnet für die klügsten Köpfe bleiben wollen. Es gilt die Regel: Wenn wir dieselbe Institution bleiben wollen, müssen wir uns verändern.
Und die anderen Universitäten müssen folgen?
Die anderen Universitäten können tun, was immer sie wollen.
Wenn das geschieht, was Sie voraussagen, müssen sie wohl folgen.
Vielleicht sehen andere Universitäten einen besseren Weg in die Zukunft oder haben gute Gründe, nicht ins digitale Lernen zu investieren. Für uns jedenfalls gibt es keine Alternative.
Kein Freund von MOOCs ist ETH-Präsident Lino Guzzella. Hier seine Haltung dazu http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/lernen-ist-magie-1.18451751
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