7. Januar 2015

Sind Lehrer Randfiguren in Reformdebatten

Die Qualität des Bildungswesens ist sowohl für die Entwicklung der jungen Menschen wie auch für die Gesellschaft und die Volkswirtschaft von zentraler Bedeutung. Es ist daher notwendig, die Eckwerte unseres Bildungswesens intensiv und öffentlich zu diskutieren.
Leider blieb die öffentliche Debatte um den neuen Lehrplan 21 (LP21) weit unter den Erwartungen. Die Deutungshoheit hatten die Experten. Besonders nachdenklich stimmt die Feststellung, dass gründliche, lebendige und engagierte Fachdiskurse bei den Hauptadressaten, den Lehrerinnen und Lehrern, eher die Ausnahme als die Regel war. Die ganze Thematik wurde faktisch dem Belieben der kantonalen Lehrerverbände unter der Ägide der Pädagogischen Hochschulen überlassen. «Unsere Mitglieder wünschen grundsätzlich den neuen Lehrplan 21», lautete die Standardbotschaft, häufig unter vernehmlichem Aufatmen der Geschäftsleitungen.





Sind Lehrer Randfiguren in Reformdebatten? Fritz Tschudi im Bildungsblog der Südostschweiz, 7.1.


Von ein paar löblichen Ausnahmen abgesehen, beherrschten die Propagandisten die Szene, während fundamentale Fragen und Einwände wie lästige Fliegen vom Tisch gewischt wurden. Der unerlässliche Diskurs um die Eckpfeiler des LP21, die Kompetenzorientierung, die Vermessungsdoktrin und die Systemsteuerung, hat in der Lehrerschaft vermutlich nicht oder höchstens oberflächlich stattgefunden. Manche Verbandsverantwortlichen mochten sich wohl nicht exponieren, waren unsicher und somit froh, sich ausschliesslich auf unverdächtige offizielle Verlautbarungen stützen zu können.
Das vor Kurzem von der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) abgesegnete monströse Lehrplankonstrukt hat jenseits der direkt involvierten professionellen Befürworter («Reformschaffende», Bildungsadministration, Lehrmittelverlage und weiterer Profiteure) wohl nur wenige überzeugte Fans. Folglich steht zu befürchten, dass auch die künftige Umsetzung weite Teile der Lehrerschaft nicht zu beflügeln vermag. Der während Jahren in manchen Verbänden sträflich vernachlässigte Fachdiskurs hinterlässt ein hausgemachtes Überzeugungsvakuum. Das ist unprofessionell!

Der Lehrplan 21 ist politisch, nicht pädagogisch motiviert
Die erfolgreiche Umsetzung kompetenzorientierter Lehrpläne sucht man weltweit vergeblich. Kein Wunder, angesichts des Fehlens der pädagogischen Motivation. Kompetenzorientierung ist letztlich eine Frage der persönlichen Einschätzung und des politischen Willens, sich dem «Diktat» der OECD zu fügen. Die Theorie ist dünn und hat mit Wissenschaftlichkeit wenig zu tun.
Eigentlich hatten es die Promotoren des neuen Lehrplans, die EDK, die Pädagogischen Hochschulen und die Lehrerverbände mit der Abgeltung einer demokratisch begründeten Bringschuld zu tun. Die genannten Institutionen stehen in der Pflicht, für eine ausgewogene Kommunikation zu sorgen. Das bedeutet vor allem für die Hochschulen und die Verbände die aktive Förderung von Fachdiskursen, welchen schon aus Gründen der Professionalität höchste Priorität zukommen sollte.
Der LP21 krempelt die bisherige Bildungskultur um. Eigene Traditionen und die lokale Verwurzelung der Heranwachsenden werden ganz im Sinne der OECD für wenig bedeutsam gehalten. Die Lehrplandoktrin ist der Verwertbarkeit des Humankapitals und nicht der Bildung verpflichtet. Die Entsorgung tragender Elemente schweizerischer Bildungstradition ist ein ernster Schritt, der nicht per Lehrplan, en passant, umgesetzt werden darf.

Debatten werden naturgemäss kontrovers geführt
Diese Aussage scheint Ängste auszulösen. Darum sei es gesagt: Meinungsvielfalt ist ein grundlegendes demokratisches Prinzip, welches zur Klärung des eigenen Standpunktes beiträgt. Kontroversität hat nichts, aber auch gar nichts mit Unbotmässigkeit oder gar Feindseligkeit, auch nicht mit Ungehorsam oder Respektlosigkeit zu tun. Ein Abo auf Friede, Freude, Eierkuchen ist keine Alternative, wenn die Verbandspolitik von professionell agierenden Adressaten ernst genommen werden soll.

Folgende Umstände haben die LP21 Debatte massiv behindert:
·         Kritische Befunde namhafter Wissenschaftler wurden kaum zur Kenntnis genommen, weil die Promotoren des LP21 rasch den Mainstream installierten und so die mediale Plattform besetzten.
·         Der Lehrplan 21 wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgearbeitet.
·         Für die Konsultationen (Beurteilung durch interessierte Gruppen) stand wenig Zeit zur Verfügung. Fundamentale Debatten fanden nicht statt. Die Kompetenzorientierung und das OECD-Konzept mit dem Ziel der Vermessbarkeit der Schülerinnen und Schüler sowie die Sicherstellung der zentralen Steuerung durch Beamte blieben unbehelligt. Damit hatten die Promotoren uneingeschränkt erreicht, was sie wollten.
·         Die Geschäftsleitungen einiger Lehrerverbände sahen ihre Aufgabe in der expliziten Werbung für die Akzeptanz des LP21. Das ist ihr gutes Recht. Fungieren die Verbandsoberen in Reformfragen aber überwiegend als verlängerter Arm des Bildungsdepartements und der Pädagogischen Hochschulen, so kann die Initiierung von Diskursen zur freien Meinungsbildung von ihnen kaum erwartet werden.
·         Lehrerverbände kommen den professionellen Erwartungen und Ansprüchen ihrer Mitglieder nach, wenn sie kontroverse Standpunkte (als Fachbeiträge und Kommentare) in ihren Vereinspublikationen aktiv fördern. Verweigert sich die Vereinsführung dieser Selbstverständlichkeit oder handelt die Redaktion parteiisch, beispielsweise durch Ausschluss kritischer Texte, so müssten die Alarmglocken läuten. Jedenfalls darf es niemals Sache eines Lehrerverbandes sein, Meinungsmache (Indoktrination) zu betreiben.
·         Pädagogische Hochschulen (PH) sehen sich als neutrale wissenschaftliche Beglaubigungsinstanz für die Absichten der Bildungspolitik. Warum aber werden den vielen kritischen Dozenten Maulkörbe verpasst?

Fazit: Fundierte Debatten zur Meinungsbildung über den Lehrplan 21 werden in Lehrerkreisen massiv behindert. Hauptverantwortlich für diesen Missstand sind ausgerechnet Leute, die statutarisch oder wissenschaftlich in der Pflicht stehen, pädagogische Interessen von Schule und Lehrerschaft zu wahren.
Zu dieser Spezies der Seifenbahnbauer gehören kantonale Lehrervertretungen und querbeet die Pädagogischen Hochschulen. Bei ersteren ist es die eigenmächtige Marginalisierung berechtigter Ansprüche wie jene auf vielfältige und ausgewogene Information (anstelle propagandistisch-indoktrinärer Belehrungen), bei letzteren die Krux mit Eigenständigkeit.
Statt sich mit Ergebnissen von Meinungsumfragen formal zu rechtfertigen, wäre es wesentlich aufschlussreicher zu erfahren, ob und in welcher Weise der Verband zur freien Meinungsbildung seiner Mitglieder aktiv beigetragen hat.

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