Zweiklassengesellschaft? Der sogenannte Nachteilsausgleich sorgt für Diskussionen, Bild: Helga Lade Fotoagentur
Dürfen schwächere Schüler künftig mit offenem Buch an die Prüfung? Aargauer Zeitung, 26.1. von Hans Fahrländer
Der
Seenger Unternehmer und Berufsschulpräsident Markus Möhl sprach in der az über die Defizite von Volksschulabgängern und
über die Schwierigkeiten von Lehrbetrieben, deren Leistungen verlässlich
einschätzen zu können. Dabei sagte er unter anderem: «Nun soll auch im Aargau
der Nachteilsausgleich (NTA) eingeführt werden. Schüler mit einem Handicap
können damit Hilfsmittel aller Art brauchen. Damit werden sämtliche Leistungen
relativ. Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt, weil er seine Leistung ohne
Hilfsmittel erbringen muss.»
Wer ein
Defizit hat, kann an Prüfungen Hilfsmittel gebrauchen? Also auch Jugendliche
mit Lernschwierigkeiten? Mit Disziplinarproblemen? Mit einer Schwäche im
Rechnen? Mit einer Französisch-Phobie? Recherchen ergaben: Nein. Es geht nicht
um Nachteile irgendwelcher Art. Und erst recht nicht um Minderbegabungen. Es
geht um echte Behinderungen. Die Wurzeln des Nachteilsausgleichs liegen beim
Gleichbehandlungsgebot der Bundesverfassung und beim
Behindertengleichstellungsgesetz aus dem Jahr 2002.
Nur nach ärztlicher Diagnose
Simone Strub,
Leiterin Kommunikation im Bildungsdepartement BKS, erklärt: «Unter dem NTA
werden Massnahmen verstanden, die zum Ziel haben, behinderungsbedingte
Nachteile im Unterricht, beim Lernen und bei Prüfungen auszugleichen. Das kann
etwa sein: gewähren von mehr Zeit oder von zusätzlichen Pausen, mündliche statt
schriftliche Prüfung oder Verwendung von Hilfsmitteln aller Art. Das Recht auf
den Nachteilsausgleich haben aber nur Kinder und Jugendliche mit einer schweren
Behinderung, die ärztlich oder fachpsychologisch diagnostiziert worden ist. Es
geht also um Schwerhörigkeit, Sehbehinderung oder andere chronische körperliche
oder psychische Krankheiten.»
Der
Nachteilsausgleich ist auch eine Folge der schulischen Integration: Heute
versucht man, möglichst viele Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung in
der Regelklasse zu unterrichten, statt sie in Sonderschulen zu stecken. Gehören
Legasthenie (Lese- und Rechtschreibschwäche) oder Dyskalkulie (Rechenschwäche),
von denen gesagt wird, sie würden heute mitunter etwas schnell attestiert, auch
zu diesen Behinderungen? Strub: «Es müssen schon schwere Fälle sein, in der
Regel nicht.» Und ADS oder ADHS, also Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit,
oft verbunden mit Hyperaktivität? «Auch hier ist es Aufgabe der Ärzte und des
Schulpsychologischen Dienstes, die Behinderung zu diagnostizieren.» Das heisst,
man muss Fälle mit echter neurobiologischer Funktionsstörung trennen von den
zappeligen, unaufmerksamen Kindern, von denen es heute in den meisten Klassen
ein paar hat.
Nur wenige Fälle im Aargau
Und noch etwas
ist Simone Strub wichtig: «Die Aussagen von Herrn Möhl könnten suggerieren, mit
dem Nachteilsausgleich schraube man die Leistungsziele hinunter, damit auch
schwächere Jugendliche eine Prüfung bestehen können. Das ist nicht der Fall.
Der NTA ist keine Lernzielbefreiung. Er kommt nur bei Jugendlichen zum Zug, die
erwiesenermassen das intellektuelle Potenzial zur Erreichung der Lernziele des
jeweiligen Schultyps haben. Entsprechend findet er nur bei ganz wenigen Fällen
Anwendung.»
Auch die
aargauische Kantonsverfassung enthält Bestimmungen (in den Artikeln 10 und 34),
welche ausgleichende Massnahmen für Kinder mit einer Benachteiligung fordern.
Die Volks- und die Mittelschule kennen den Nachteilsausgleich schon länger; er
hat noch kaum zu Konflikten geführt.
In der
Berufsbildung hat sich die Frage erst in den letzten Jahren deutlicher
gestellt, weil sich die Integration von behinderten Kindern in der Volksschule
mit Verzögerung auf diese Stufe auswirkt. Im letzten September hat die
Schweizerische Berufsbildungsämterkonferenz Empfehlungen zuhanden der Kantone
erlassen. Zurzeit befasst sich eine Arbeitsgruppe des BKS mit deren Umsetzung.
«Wichtig ist, dass beim Übertritt von der Volksschule in die Berufsbildung eine
abgestimmte Handhabung gewährleistet ist», sagt Simone Strub.
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