26. Januar 2015

Dürfen schwächere Schüler in Zukunft mit offenem Buch an die Prüfung?

Schwächere Schüler sollen im Aargau bei einer Prüfung Hilfsmittel gebrauchen dürfen, also zum Beispiel ein Schulbuch. Doch so einfach werden Schüler nicht als lernschwach abgestempelt.


Zweiklassengesellschaft? Der sogenannte Nachteilsausgleich sorgt für Diskussionen, Bild: Helga Lade Fotoagentur

Dürfen schwächere Schüler künftig mit offenem Buch an die Prüfung? Aargauer Zeitung, 26.1. von Hans Fahrländer


Der Seenger Unternehmer und Berufsschulpräsident Markus Möhl sprach in der az über die Defizite von Volksschulabgängern und über die Schwierigkeiten von Lehrbetrieben, deren Leistungen verlässlich einschätzen zu können. Dabei sagte er unter anderem: «Nun soll auch im Aargau der Nachteilsausgleich (NTA) eingeführt werden. Schüler mit einem Handicap können damit Hilfsmittel aller Art brauchen. Damit werden sämtliche Leistungen relativ. Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt, weil er seine Leistung ohne Hilfsmittel erbringen muss.»
Wer ein Defizit hat, kann an Prüfungen Hilfsmittel gebrauchen? Also auch Jugendliche mit Lernschwierigkeiten? Mit Disziplinarproblemen? Mit einer Schwäche im Rechnen? Mit einer Französisch-Phobie? Recherchen ergaben: Nein. Es geht nicht um Nachteile irgendwelcher Art. Und erst recht nicht um Minderbegabungen. Es geht um echte Behinderungen. Die Wurzeln des Nachteilsausgleichs liegen beim Gleichbehandlungsgebot der Bundesverfassung und beim Behindertengleichstellungsgesetz aus dem Jahr 2002.

Nur nach ärztlicher Diagnose

Simone Strub, Leiterin Kommunikation im Bildungsdepartement BKS, erklärt: «Unter dem NTA werden Massnahmen verstanden, die zum Ziel haben, behinderungsbedingte Nachteile im Unterricht, beim Lernen und bei Prüfungen auszugleichen. Das kann etwa sein: gewähren von mehr Zeit oder von zusätzlichen Pausen, mündliche statt schriftliche Prüfung oder Verwendung von Hilfsmitteln aller Art. Das Recht auf den Nachteilsausgleich haben aber nur Kinder und Jugendliche mit einer schweren Behinderung, die ärztlich oder fachpsychologisch diagnostiziert worden ist. Es geht also um Schwerhörigkeit, Sehbehinderung oder andere chronische körperliche oder psychische Krankheiten.»
Der Nachteilsausgleich ist auch eine Folge der schulischen Integration: Heute versucht man, möglichst viele Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung in der Regelklasse zu unterrichten, statt sie in Sonderschulen zu stecken. Gehören Legasthenie (Lese- und Rechtschreibschwäche) oder Dyskalkulie (Rechenschwäche), von denen gesagt wird, sie würden heute mitunter etwas schnell attestiert, auch zu diesen Behinderungen? Strub: «Es müssen schon schwere Fälle sein, in der Regel nicht.» Und ADS oder ADHS, also Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit, oft verbunden mit Hyperaktivität? «Auch hier ist es Aufgabe der Ärzte und des Schulpsychologischen Dienstes, die Behinderung zu diagnostizieren.» Das heisst, man muss Fälle mit echter neurobiologischer Funktionsstörung trennen von den zappeligen, unaufmerksamen Kindern, von denen es heute in den meisten Klassen ein paar hat.

Nur wenige Fälle im Aargau

Und noch etwas ist Simone Strub wichtig: «Die Aussagen von Herrn Möhl könnten suggerieren, mit dem Nachteilsausgleich schraube man die Leistungsziele hinunter, damit auch schwächere Jugendliche eine Prüfung bestehen können. Das ist nicht der Fall. Der NTA ist keine Lernzielbefreiung. Er kommt nur bei Jugendlichen zum Zug, die erwiesenermassen das intellektuelle Potenzial zur Erreichung der Lernziele des jeweiligen Schultyps haben. Entsprechend findet er nur bei ganz wenigen Fällen Anwendung.»
Auch die aargauische Kantonsverfassung enthält Bestimmungen (in den Artikeln 10 und 34), welche ausgleichende Massnahmen für Kinder mit einer Benachteiligung fordern. Die Volks- und die Mittelschule kennen den Nachteilsausgleich schon länger; er hat noch kaum zu Konflikten geführt.
In der Berufsbildung hat sich die Frage erst in den letzten Jahren deutlicher gestellt, weil sich die Integration von behinderten Kindern in der Volksschule mit Verzögerung auf diese Stufe auswirkt. Im letzten September hat die Schweizerische Berufsbildungsämterkonferenz Empfehlungen zuhanden der Kantone erlassen. Zurzeit befasst sich eine Arbeitsgruppe des BKS mit deren Umsetzung. «Wichtig ist, dass beim Übertritt von der Volksschule in die Berufsbildung eine abgestimmte Handhabung gewährleistet ist», sagt Simone Strub.


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