In den 1960er-Jahren umfasste der Lehrplan schlappe zehn Seiten, eine
halbe Seite pro Fach. Die Lernziele waren klar definiert: Lektion 1 bis 3 des
Französisch-Lehrbuchs müssen innerhalb eines Quartals erledigt sein. Heute ist
der Lehrplan ein Schinken mit 470 Seiten – und das ist schon die gekürzte
Fassung.
Wird der LP21 den Unterricht umkrempeln? Bild: Christian Beutler
Lehrplan 21 - Vision oder Wahnsinn, Tageswoche, 11.11. von Jeremias Schulthess
Letzten Freitag stellten die
Deutschschweizer Erziehungsdirektoren das Werk vor – massiver
Widerstand regt sich. Die Geister scheiden sich vor allem ob eines unverdächtig
erscheinenden Wortes: Kompetenzen.
«Die Schülerinnen und Schüler können verschiedene Wirtschaftsräume
beschreiben und unterscheiden», ist eine von 363 Kompetenzen im Fach Räume,
Zeiten, Gesellschaften, das der Lehrplan 21 definiert. Früher wäre dies
vielleicht im Fach Geschichte unter den Punkten «Sozialismus im Ostblock» und
«China als wirtschaftliches Gebilde» behandelt worden.
Wer nicht Schiller gelesen
hat, ist ungebildet
Heute steht nicht mehr das Faktenwissen im Vordergrund. Dem Lehrplan 21
ist es beispielsweise egal, ob der Geschichtslehrer China oder die USA
behandelt – er kann auch Kambodscha als Beispiel nehmen –, Hauptsache, die
Schüler lernen Verbindungen herzustellen und Unterschiede zu erkennen.
Der Erziehungswissenschaftler Albert Düggeli erklärt: «Der Fokus liegt
weniger auf einem kanonisch vermittelten Wissen, sondern verstärkt auf
Handlungswissen.» Das sei der Versuch, junge Menschen auf ein Leben in
einer differenzierten Gesellschaft mit komplexen Herausforderungen auszubilden.
Zugespitzt gesagt: Im letzten Jahrhundert galt das Motto, wer nicht
Schiller gelesen hat, ist nicht gebildet. Heute kommt der Name Schiller nicht
mal im Lehrplan vor. Es geht um einordnen statt auswendig lernen.
Inhalte klarer definieren
Das klingt lohnenswert. Weshalb dann dieser Aufschrei von Politikern und
Lehrern?
Der Grünen-Landrat und Lehrer Jürg Wiedemann findet, der neue Lehrplan
fokussiere zu stark auf Kompetenzen. «Die Inhalte müssten klarer definiert sein
– darauf aufbauend sollten die Kompetenzen folgen.»
Wenn man den Lehrplan wortgemäss umsetzen wolle, wäre das für die Lehrer
ein schwerwiegender Eingriff, meint Max Müller, langjähriger Sekundarlehrer und
ehemaliger Präsident des Lehrerverbands Baselland.
Der Grund dafür: Kompetenzen zu lehren ist ein ganz anderer Ansatz, als
Wissen zu vermitteln. Die Lehrer müssen den Überblick über ihr Fachgebiet haben
und gleichzeitig vernetztes Wissen unterrichten – keine einfache Aufgabe also.
Nur ein Seminar in
Geschichte
Zum Beispiel im Fach Zeiten, Räume, Gesellschaften sind die Anforderungen
an Lehrer sehr anspruchsvoll. Welche Revolution nimmt der Geschichtslehrer als
passendes Beispiel? Bauernrevolte, Spartakus-Aufstand, Arabischer Frühling –
oder doch ganz klassisch die Französische Revolution?
Für diese Entscheidung bräuchte es ein fundiertes Fachwissen und genau
dieses fehle in der Ausbildung, weil der Lehrer unter Umständen nur gerade ein
Seminar in Geschichte absolviert habe, sagt Müller.
Ähnlich argumentiert der Politiker Wiedemann: Weil einige traditionelle
Fächer zu sogenannten Sammelfächern zusammengefasst würden, seien die
Lehrpersonen nicht mehr fundiert ausgebildet. Die Lehrer lernten an der
Pädagogischen Hochschule heute nur noch ein Bruchteil von dem, was früher an
der Universität absolviert worden sei.
«Der Lehrplan wird
scheitern»
Verschwindet der Lehrplan 21 also in der Schublade im Lehrerzimmer, weil
ihn keiner umsetzen kann? Der pensionierte Lehrer Max Müller hat in seiner
Laufbahn einige Lehrplan-Revisionen erlebt. Viele davon seien in der Schublade
verschwunden, sagt Müller.
Dieses Mal sei es jedoch schwierig, sich um den neuen Lehrplan herum zu
winden. «Dieser Lehrplan wird scheitern», prophezeit Müller, «und anschliessend
wird er ‹optimiert› – das heisst verschlimmbessert». Er plädiert dafür, dass
Lehrer konkrete Anhaltspunkte haben, um fundiertes Fachwissen zu unterrichten.
Nicht ganz so dramatisch sieht es Gaby Hintermann von der Freiwilligen
Schulsynode Basel-Stadt: «Das Kompetenzmodell ist bereits in einigen neueren
Lehrplänen angedeutet.»
Weder Vision noch Wahnsinn
Zum Beispiel bei der auslaufenden Orientierungsschule. Dort gibt es
ausformulierte Lernziele, eine Vorstufe der Kompetenzen. Für Primarlehrer ist
der Lehrplan 21 hingegen eine grössere Umstellung, da im Primarschullehrplan
bisher hauptsächlich Lerninhalte definiert waren.
Trotzdem will Hintermann nicht von einem Paradigmenwechsel oder gar
einer Vision sprechen. «Der Lehrplan 21 ist ein Kind seiner Zeit.»
Sie hört von vielen Lehrpersonen, die den Lehrplan 21 lesen: «Das mache
ich doch schon lange so.» Die Schüler würden die Umsetzung des neuen Lehrplans
deshalb kaum zu spüren bekommen – der Unterricht werde nicht komplett
umgekrempelt, sondern nur punktuell weiterentwickelt.
Es sei jedoch wichtig, die Änderungen nun in den Kollegien zu
diskutieren, um eine pädagogische Entwicklung anzustossen, sagt Hintermann.
Erziehungswissenschaftler Düggeli: «Die Lehrplan-Revision könnte dieses
Mal – vielleicht im Unterschied zu früheren Revisionen – dem Schulbetrieb
wirklich neue Impulse verleihen.» Es komme jedoch darauf an, wie die
Lehrpersonen mit dieser Aufgabe umgingen.
Der Lehrplan 21 ist weder Vision noch Wahnsinn. Er entspricht einfach
nur dem erziehungswissenschaftlichen Zeitgeist.
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