"In der Vernehmlassung war die Kompetenzorientierung nicht umstritten", Bernhard Pulvers Wahrnehmung der Lehrplandebatte. Bild: Caspar Martig
"Ein Lehrplan ist ein Kompass - das ist doch kein Gesetzbuch!", Sonntagszeitung, 16.11. von Nadja Pastega
Herr Pulver, der neue Lehrplan ist
«kompetenzorientiert». Niemand kann erklären, was das eigentlich heisst.
Versuchen Sie es.
Die bisherigen
Lehrpläne waren eher Stofflehrpläne. Es ging darum, was man durchnimmt. Mit dem
Lehrplan 21 geht es jetzt darum, was der Schüler am Schluss der Schule kann.
Das gibt leider ein «Ungenügend».
Habe ich noch einen
Versuch?
Bitte.
Nehmen wir das Fach
Geschichte. Wenn man nur Wissen vermittelt, lernen die Schüler, dass der Zweite
Weltkrieg von 1939 bis 1945 ging. Kompetenzorientierter Unterricht heisst, dass
man auch die Ursachen für diesen Krieg versteht. Ein anderes Beispiel: Man hat
nicht nur von der Judenverfolgung gehört, sondern auch begriffen, wie so etwas
entstehen kann. Wissen steht weiterhin
im Mittelpunkt. Hinzu kommt, dass die Schüler die Fähigkeit haben sollen,
dieses Wissen anzuwenden. Das machen die Lehrer aber schon heute so.
Eben, was ist der Lehrplan 21 denn nun: Ein
Jahrhundertwerk, das die Schulen grundlegend umorganisiert – oder ändert sich
in den Klassenzimmern praktisch nichts?
In meinem Kanton ist
es kein Riesensprung. Unser bisheriger Lehrplan sieht bereits Lernziele vor.
Das «historisch» Neue ist, dass der Unterricht erstmals an allen
Deutschschweizer Schulen harmonisiert wird. Sämtliche Schüler müssen am Ende der einzelnen
Schulstufen die gleichen Grundansprüche erreichen. Das kann für einzelne
Kantone spürbare Veränderungen bedeuten.
Sie sind ein grosser Fan der musischen Kunst. Der
Lehrplan sieht in der 9. Klasse nur noch eine Musiklektion vor. Werden Sie dem
folgen?
Nein. Wir haben in
Bern bisher zwei Stunden Musik, und das ist gut so.
Es ist doch illusorisch, die Schulen harmonisieren zu
wollen, wenn Sie selber nicht einmal in diesem kleinen Bereich nachgeben
wollen.
Harmonisieren heisst
ja nicht, alles und jedes zu vereinheitlichen.
Was denn sonst?
Dass man bei den
Grundkenntnissen die gleichen Ziele erreicht. Da spielt es keine Rolle, dass
man eine Musiklektion mehr macht als andere.
Die OECD setzt voll auf die «Kompetenzorientierung» –
die bildungspolitischen Erfolge sind
nicht berauschend.
Moderne Lehrpläne
sind so aufgebaut. Auch die Pädagogischen Hochschulen unterrichten so.
Aber bei Lehrern und Bildungsexperten ist das
umstritten.
Jetzt behauptet man
plötzlich, das sei umstritten! Das schreiben die Journalisten einander ab. In
der Vernehmlassung war das nicht umstritten. Kritik kam, weil es zu viel im
Lehrplan habe und die Grundansprüche zu hoch seien. Die Kompetenzorientierung
fanden alle gut.
Die bekannte US-Pädagogin Diane Ravitch war eine
grosse Verfechterin der Kompetenzorientierung. In ihrem neuen Buch bekennt
sie: «Ich habe mich geirrt!»
Wenn jetzt der
Vorwurf erhoben wird, man vermittle mit dem neuen Lehrplan kein Wissen mehr,
ist das absurd! Das will ich erst mal sehen, wie ein Schüler kompetent sein
kann, wenn er nichts weiss.
In Deutschland geht das. Hessen, wo kompetenzorientiert
unterrichtet wird, hat das Abiturfach Präsentation eingeführt. Dort kann man ein
Matheproblem vorstellen. Lehrer fühlen sich verschau- kelt, wenn die
vortragenden Schüler von Dingen reden, von denen sie in der Vergangenheit kaum
etwas verstanden haben. Viele erzielen eine gute Note, etwa genauso viele
fallen durch das Abitur.
Ein solches Fach ist
in der Schweiz nicht vorgesehen. Richtig ist, dass die Schüler auch lernen,
etwas zu präsentieren. In meiner Zeit hat man das in der Schule nicht gemacht.
Aber Präsentieren unabhängig vom Inhalt werden wir sicher nicht einführen.
Der Lehrplan 21 hat 470 Seiten, enthält 1095
Grundansprüche und 363 Kompetenzen. Da brauchen die Lehrer Nachhilfe, um
durchzublicken.
Das musste ja kommen!
Der neue Lehrplan ist nicht umfangreicher als die heutigen Lehrpläne für
Kindergarten, Primar- und Sekundarstufe zusammengenommen. In einigen Kantonen
war er bisher sogar umfangreicher. Es erwartet niemand, dass die Lehrer ständig
diese 470 Seiten durchblättern. Man muss dem Lehrplan doch nicht etwas
unterstellen, was auch heute niemand macht. Kein Lehrer schaut am Morgen in den
Lehrplan, um nachzuschauen, was er durchnehmen muss. Ein Lehrplan ist ein Kompass – das
ist doch kein Gesetzbuch! Bei den bisherigen Lehrplänen wird auch nicht jede
einzelne Zeile sklavisch umgesetzt. Das geht gar nicht: Die Schule lebt nicht
von Paragrafen, sondern von guten Beziehungen.
Im Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» müssen die
Schüler Folgendes erreichen: «Können Grundlagen für Entscheidungen bei Raumplanungsprozessen
erarbeiten und entsprechende Vorhaben untersuchen .» Das kann doch nicht mal
ein Erwachsener.
Ich finde jetzt auch,
dass das ein sehr hoher Anspruch ist. Aber es ist eine Minderheit von Sätzen,
die man kritisieren kann (blättert im Lehrplan). Ich finde hier ganz viel drin,
das man sofort versteht. «Die Schüler können die Entstehung und Entwicklung der
Schweiz als Bundesstaat schildern und in
einen europäischen Zusammenhang stellen.»
Das bedeutet?
Dass man zum Beispiel
sagen kann, wie es ein langer Weg war vom Rütlischwur – das ist zwar ein bisschen ein Mythos – bis
zur Gründung des Bundesstaats 1848.
Die Frage ist doch, wie man Kompetenzen benoten will.
Gibt es dafür neue Zeugnisse oder Beurteilungsmodelle?
Das kann man wie
bisher mit Noten bewerten, das ist kein Problem. Wir sind derzeit dabei, Tipps
zu erarbeiten, wie man von den Kompetenzen zu den Noten kommt.
Werden die Lehrer nachgeschult?
In unserem Kanton
bietet die Pädagogische Hochschule regional Schulungen an, wie man in den
einzelnen Fächern Aufgaben stellt und Prüfungen machen kann.
Was kostet das?
Es ist eine halbe
Million Franken pro Jahr über sechs Jahre budgetiert, also 3 Millionen Franken.
Und die Gesamtkosten für die Einführung des neuen
Lehrplans?
Neben diesen
Weiterbildungskosten hat der Kanton Bern für die Erarbeitung des Lehrplans 1,4
Millionen Franken bezahlt. Zudem werden wir die Lektionenzahl in Deutsch und
Mathematik erhöhen müssen. In diesen Fächern haben wir bisher deutlich weniger
Stunden als etwa der Kanton St.Gallen. Man
kann nicht verlangen, dass die Berner Schulen das Gleiche erreichen mit weniger
Lektionen.
Mit einem gemeinsamen Lehrplan werden die Kantone
vergleichbar. Was ist hier geplant?
Wir fahren Pisa
massiv herunter und nehmen nur noch daran teil, um die Schweiz als Gesamtheit
international mit anderen Ländern zu vergleichen. Neu ist eine Art «Schweiz-Pisa»
vorgesehen, damit wir einen Kantonsvergleich machen können.
Wie sieht das konkret aus?
Analog zu Pisa wird
mit repräsentativen Schülerstichproben in den einzelnen Kantonen geprüft, ob
die nationalen Bildungsziele und der Lehrplan 21 erreicht werden. Pro Testjahr
werden ein bis zwei Fächer auf einer bestimmten Schulstufe geprüft. 2016 sind
die ersten Schülertest in den 9. Klassen für Mathematik geplant. Es handelt
sich, wie gesagt, um Stichproben, und es erfolgt keine Testerei aller Schulen
oder aller Klassen. Das haben wir klar festgehalten.
Der Kanton Thurgau hat diese Woche bereits
angekündigt, dass der Lehrplan an «Thurgauer Verhältnisse» angepasst wird.
Französisch gibt es erst auf der Oberstufe, der Lehrplan sieht das anders vor.
Ärgert Sie das?
Ich bedaure, dass
einzelne Kantone ausscheren. Wir haben in der Erziehungsdirektorenkonferenz z
2004 einen Kompromiss beschlossen: Zwei Fremdsprachen in der Primarschule,
dafür können die Deutschschweizer Kantone entscheiden, ob sie mit Französisch
oder Englisch anfangen. Das halte ich für einen Minimumkompromiss, den man
einhalten sollte.
Bundesrat Berset droht mit einer Intervention. Zu
Recht?
Der Bund muss sich
gut überlegen, ob er eingreifen will. Wegen ein, zwei Kantonen ist der
Zusammenhalt in diesem Land noch nicht infrage gestellt. Man muss sich bewusst
sein, dass mit einer Bundesintervention Risiken verbunden sind. Wenn das
Parlament beschliesst, dass überall zuerst Französisch
unterrichtet werden muss und es ein Referendum gibt, macht mir eine solche
Abstimmung Sorgen.
Das wäre zumindest ein demokratischer Entscheid.
Wenn eine Mehrheit
beschliesst, dass man in der ganzen Deutschschweiz Englisch als erste
Fremdsprache will, drohen belgische Verhältnisse. Das ist ein Spiel mit dem
Feuer. Aber nicht vom Bund, sondern von jenen Kantonen, die das Französisch aus
der Primarschule kippen wollen. In unserer wunderbaren vielfältigen Schweiz ist
es wichtig, dass die Mehrheit manchmal einen Schritt auf die Minderheit zu
macht!
Viele Schüler können am Ende der Schulzeit kaum lesen
und schreiben – das ist doch die eigentliche Sprachkatastrophe der Schweiz.
Es gibt verschiedene
Sorgen der Volksschule, das ist eine davon.
Das Frühfranzösisch kostet Ihren Kanton 24 Millionen
Franken. Wäre es nicht besser, dieses Geld in den Deutschunterricht zu stecken?
Wir werden die Zahl
der Deutsch lektionen erhöhen. Aber etwas vom Wichtigsten, was die Lehrpersonen
brauchen, ist Stabilität. Auch darum sollte man das Frühfranzösisch nicht wieder
abschaffen. Hüst und Hott ist etwas vom Schlimmsten in der Bildungspolitik.
Viele Lehrer haben genug davon, dass man
eine Reform startet und wieder abbricht.
Eine Nationalfonds-Studie hat gezeigt, dass jeder
dritte Lehrer Burn-out-gefährdet ist.
Besorgt Sie das?
Wir haben im Kanton
Bern eine eigene Untersuchung gemacht und sind zu einem ähnlichen Befund gekommen.
Lehrpersonen sind mit ihrem Beruf sehr verbunden. Und in Berufen mit hohem
Commitment ist das Burn-out-Risiko hoch: Wenn es nicht gut läuft, wird es
schnell sehr schwierig. Dann nimmt
die Berufszufriedenheit rapide ab.
Klagen die Lehrer auf hohem Niveau?
Das glaube ich nicht.
Burn-out hat viel damit zu tun, dass man keine Wertschätzung bekommt. Dass man
das Gefühl hat, man hat einen hohen zeitlichen und emotionalen Einsatz und es
kommt kein Feedback. Dann hat man vielleicht noch schwierige Schüler, Konflikte
mit den Eltern. Und am Schluss muss man sich Sprüche anhören wie: «Diese Lehrer
mit ihren vielen Ferien.»
Das Unterrichten fordert mehr als früher?
Die Erziehung der
Kinder hat sich verändert, es ist schwieriger geworden, Schule zu geben. Für
mich ist das grösste bildungspolitische Thema, wie wir das latente
Überforderungsgefühl der Lehrer wegbringen.
Auch bei den Schülern sind viele am Limit, immer mehr
sitzen in der Nachhilfe. Ein Versagen der Schule?
Sie ist durch die
Heterogenität der Schüler zum Teil überfordert. Hinzu kommt bei manchen Eltern
ein hoher Ehrgeiz. Sie stellen Ansprüche an ihre Kinder, die kaum erfüllbar
sind. Diese Kombination führt zu diesen hohen Nachhilfequoten.
Wie haben Sie Ihre eigene Schulzeit erlebt?
Ich habe sie in guter
Erinnerung. Ich hatte sehr viele Lehrer und staune manchmal, wenn man heute
sagt, ein Kind habe so wahnsinnig viele Lehrer. Das war früher nicht anders.
Waren Sie ein guter Schüler?
Ja.
Ein Streber?
Das nicht, die Schule
ist mir aber immer leichtgefallen. Ich musste nicht kämpfen. Deshalb konnte ich
mich nebenbei noch politisch engagieren.
Sie waren schon als Schüler aktiv?
Ja, im Gymnasium, ab
dem 9. Schuljahr. Der Häuserabbruch im Quartier Länggasse war damals ein Thema.
Haben Sie Häuser besetzt?
Nein, dafür bin ich
nicht der Typ. Ich bin zu korrekt. Aber ich habe Unterschriften für Petitionen gegen den Häuserabbruch
gesammelt. Später kam dann die AKW-Bewegung.
Sie sind seit 2006 Erziehungs direktor. Was haben Sie
für Zukunftspläne?
Ich bleibe noch ein
paar Jahre Erziehungsdirektor. Von den politischen Jobs, die man in der Schweiz
machen kann, ist Erziehungsdirektor im zweisprachigen Kanton Bern etwas vom
Spannendsten. Später möchte ich gerne mal wieder unterrichten. Ich hatte früher
an der Uni zwei Jahre einen Lehrauftrag. Das habe ich sehr genossen.
Zieht es Sie nicht ins Bundeshaus?
Das gehört nicht zu
meinen Plänen.
Man spricht Ihnen Bundesratsformat zu und prophezeit,
dass Sie als erster Politiker der Grünen in die Landesregierung einziehen
werden.
Das hat man schon vor
vier Jahren gesagt. Ich habe zum Glück nicht zu viele Gedanken daran
verschwendet. Diese Frage hat sich gar nie gestellt. Sie stellt sich meiner
Meinung nach auch jetzt nicht.
Und wenn doch?
Wenn sie sich eines
Tages wirklich stellen würde, werde ich sie dann beantworten.
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