16. November 2014

Bernhard Pulver erklärt den Lehrplan

Im Interview mit Nadja Pastega erklärt uns der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver den Lehrplan, die Kompetenzorierentierung und die Harmonisierung. Auch lässt er erahnen, wie die Kompetenzen dereinst gemessen und überprüft werden sollen.



"In der Vernehmlassung war die Kompetenzorientierung nicht umstritten", Bernhard Pulvers Wahrnehmung der Lehrplandebatte. Bild: Caspar Martig

"Ein Lehrplan ist ein Kompass - das ist doch kein Gesetzbuch!", Sonntagszeitung, 16.11. von Nadja Pastega


Herr Pulver, der neue Lehrplan ist «kompetenzorientiert». Niemand kann erklären, was das eigentlich heisst. Versuchen Sie es.
Die bisherigen Lehrpläne waren eher Stofflehrpläne. Es ging darum, was man durchnimmt. Mit dem Lehrplan 21 geht es jetzt darum, was der Schüler am Schluss der Schule kann.
Das gibt leider ein «Ungenügend».
Habe ich noch einen Versuch?
Bitte.
Nehmen wir das Fach Geschichte. Wenn man nur Wissen vermittelt, lernen die Schüler, dass der Zweite Weltkrieg von 1939 bis 1945 ging. Kompetenzorientierter Unterricht heisst, dass man auch die Ursachen für diesen Krieg versteht. Ein anderes Beispiel: Man hat nicht nur von der Judenverfolgung gehört, sondern auch begriffen, wie so etwas entstehen  kann. Wissen steht weiterhin im Mittelpunkt. Hinzu kommt, dass die Schüler die Fähigkeit haben sollen, dieses Wissen anzuwenden. Das machen die Lehrer aber schon heute so.
Eben, was ist der Lehrplan 21 denn nun: Ein Jahrhundertwerk, das die Schulen grundlegend umorganisiert – oder ändert sich in den Klassenzimmern praktisch nichts?
In meinem Kanton ist es kein Riesensprung. Unser bisheriger Lehrplan sieht bereits Lernziele vor. Das «historisch» Neue ist, dass der Unterricht erstmals an allen Deutschschweizer Schulen harmonisiert wird. Sämtliche  Schüler müssen am Ende der einzelnen Schulstufen die gleichen Grundansprüche erreichen. Das kann für einzelne Kantone spürbare Veränderungen bedeuten.
Sie sind ein grosser Fan der musischen Kunst. Der Lehrplan sieht in der 9. Klasse nur noch eine Musiklektion vor. Werden Sie dem folgen?
Nein. Wir haben in Bern bisher zwei Stunden Musik, und das ist gut so.
Es ist doch illusorisch, die Schulen harmonisieren zu wollen, wenn Sie selber nicht einmal in diesem kleinen Bereich nachgeben wollen.
Harmonisieren heisst ja nicht, alles und jedes zu vereinheitlichen.
Was denn sonst?
Dass man bei den Grundkenntnissen die gleichen Ziele erreicht. Da spielt es keine Rolle, dass man eine Musiklektion mehr macht als andere.
Die OECD setzt voll auf die «Kompetenzorientierung» – die bildungspolitischen  Erfolge sind nicht berauschend.
Moderne Lehrpläne sind so aufgebaut. Auch die Pädagogischen Hochschulen unterrichten so.
Aber bei Lehrern und Bildungsexperten ist das umstritten.
Jetzt behauptet man plötzlich, das sei umstritten! Das schreiben die Journalisten einander ab. In der Vernehmlassung war das nicht umstritten. Kritik kam, weil es zu viel im Lehrplan habe und die Grundansprüche zu hoch seien. Die Kompetenzorientierung fanden alle gut.
Die bekannte US-Pädagogin Diane Ravitch war eine grosse Verfechterin der Kompetenzorientierung. In ihrem neuen Buch bekennt sie: «Ich habe mich geirrt!»
Wenn jetzt der Vorwurf erhoben wird, man vermittle mit dem neuen Lehrplan kein Wissen mehr, ist das absurd! Das will ich erst mal sehen, wie ein Schüler kompetent sein kann, wenn er nichts weiss.
In Deutschland geht das. Hessen, wo kompetenzorientiert unterrichtet wird, hat das Abiturfach Präsentation eingeführt. Dort kann man ein Matheproblem vorstellen. Lehrer fühlen sich verschau- kelt, wenn die vortragenden Schüler von Dingen reden, von denen sie in der Vergangenheit kaum etwas verstanden haben. Viele erzielen eine gute Note, etwa genauso viele fallen durch das Abitur.
Ein solches Fach ist in der Schweiz nicht vorgesehen. Richtig ist, dass die Schüler auch lernen, etwas zu präsentieren. In meiner Zeit hat man das in der Schule nicht gemacht. Aber Präsentieren unabhängig vom Inhalt werden wir sicher nicht einführen.
Der Lehrplan 21 hat 470 Seiten, enthält 1095 Grundansprüche und 363 Kompetenzen. Da brauchen die Lehrer Nachhilfe, um durchzublicken.
Das musste ja kommen! Der neue Lehrplan ist nicht umfangreicher als die heutigen Lehrpläne für Kindergarten, Primar- und Sekundarstufe zusammengenommen. In einigen Kantonen war er bisher sogar umfangreicher. Es erwartet niemand, dass die Lehrer ständig diese 470 Seiten durchblättern. Man muss dem Lehrplan doch nicht etwas unterstellen, was auch heute niemand macht. Kein Lehrer schaut am Morgen in den Lehrplan, um nachzuschauen, was er durchnehmen muss. Ein Lehrplan ist ein Kompass – das ist doch kein Gesetzbuch! Bei den bisherigen Lehrplänen wird auch nicht jede einzelne Zeile sklavisch umgesetzt. Das geht gar nicht: Die Schule lebt nicht von Paragrafen, sondern von guten Beziehungen.
Im Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» müssen die Schüler Folgendes erreichen: «Können Grundlagen für Entscheidungen bei Raumplanungsprozessen erarbeiten und entsprechende Vorhaben untersuchen .» Das kann doch nicht mal ein Erwachsener.
Ich finde jetzt auch, dass das ein sehr hoher Anspruch ist. Aber es ist eine Minderheit von Sätzen, die man kritisieren kann (blättert im Lehrplan). Ich finde hier ganz viel drin, das man sofort versteht. «Die Schüler können die Entstehung und Entwicklung der Schweiz als Bundesstaat schildern  und in einen europäischen Zusammenhang stellen.»
Das bedeutet?
Dass man zum Beispiel sagen kann, wie es ein langer Weg war vom Rütlischwur  – das ist zwar ein bisschen ein Mythos – bis zur Gründung des Bundesstaats 1848.
Die Frage ist doch, wie man Kompetenzen benoten will. Gibt es dafür neue Zeugnisse oder Beurteilungsmodelle?
Das kann man wie bisher mit Noten bewerten, das ist kein Problem. Wir sind derzeit dabei, Tipps zu erarbeiten, wie man von den Kompetenzen zu den Noten kommt.
Werden die Lehrer nachgeschult?
In unserem Kanton bietet die Pädagogische Hochschule regional Schulungen an, wie man in den einzelnen Fächern Aufgaben stellt und Prüfungen machen kann.
Was kostet das?
Es ist eine halbe Million Franken pro Jahr über sechs Jahre budgetiert, also 3 Millionen Franken.
Und die Gesamtkosten für die Einführung des neuen Lehrplans?
Neben diesen Weiterbildungskosten hat der Kanton Bern für die Erarbeitung des Lehrplans 1,4 Millionen Franken bezahlt. Zudem werden wir die Lektionenzahl in Deutsch und Mathematik erhöhen müssen. In diesen Fächern haben wir bisher deutlich weniger Stunden als etwa der Kanton St.Gallen. Man kann nicht verlangen, dass die Berner Schulen das Gleiche erreichen mit weniger Lektionen.
Mit einem gemeinsamen Lehrplan werden die Kantone vergleichbar. Was ist hier geplant?
Wir fahren Pisa massiv herunter und nehmen nur noch daran teil, um die Schweiz als Gesamtheit international mit anderen Ländern zu vergleichen. Neu ist eine Art «Schweiz-Pisa» vorgesehen, damit wir einen Kantonsvergleich machen können.
Wie sieht das konkret aus?
Analog zu Pisa wird mit repräsentativen Schülerstichproben in den einzelnen Kantonen geprüft, ob die nationalen Bildungsziele und der Lehrplan 21 erreicht werden. Pro Testjahr werden ein bis zwei Fächer auf einer bestimmten Schulstufe geprüft. 2016 sind die ersten Schülertest in den 9. Klassen für Mathematik geplant. Es handelt sich, wie gesagt, um Stichproben, und es erfolgt keine Testerei aller Schulen oder aller Klassen. Das haben wir klar festgehalten.
Der Kanton Thurgau hat diese Woche bereits angekündigt, dass der Lehrplan an «Thurgauer Verhältnisse» angepasst wird. Französisch gibt es erst auf der Oberstufe, der Lehrplan sieht das anders vor. Ärgert Sie das?
Ich bedaure, dass einzelne Kantone ausscheren. Wir haben in der Erziehungsdirektorenkonferenz z 2004 einen Kompromiss beschlossen: Zwei Fremdsprachen in der Primarschule, dafür können die Deutschschweizer  Kantone entscheiden, ob sie mit Französisch oder Englisch anfangen. Das halte ich für einen Minimumkompromiss, den man einhalten sollte.
Bundesrat Berset droht mit einer Intervention. Zu Recht?
Der Bund muss sich gut überlegen, ob er eingreifen will. Wegen ein, zwei Kantonen ist der Zusammenhalt in diesem Land noch nicht infrage gestellt. Man muss sich bewusst sein, dass mit einer Bundesintervention Risiken verbunden sind. Wenn das Parlament beschliesst, dass überall zuerst Französisch unterrichtet werden muss und es ein Referendum gibt, macht mir eine solche Abstimmung Sorgen.
Das wäre zumindest ein demokratischer Entscheid.
Wenn eine Mehrheit beschliesst, dass man in der ganzen Deutschschweiz Englisch als erste Fremdsprache will, drohen belgische Verhältnisse. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Aber nicht vom Bund, sondern von jenen Kantonen, die das Französisch aus der Primarschule kippen wollen. In unserer wunderbaren vielfältigen Schweiz ist es wichtig, dass die Mehrheit manchmal einen Schritt auf die Minderheit zu macht!
Viele Schüler können am Ende der Schulzeit kaum lesen und schreiben – das ist doch die eigentliche Sprachkatastrophe der Schweiz.
Es gibt verschiedene Sorgen der Volksschule, das ist eine davon.
Das Frühfranzösisch kostet Ihren Kanton 24 Millionen Franken. Wäre es nicht besser, dieses Geld in den Deutschunterricht zu stecken?
Wir werden die Zahl der Deutsch lektionen erhöhen. Aber etwas vom Wichtigsten, was die Lehrpersonen brauchen, ist Stabilität. Auch darum sollte man das Frühfranzösisch nicht wieder abschaffen. Hüst und Hott ist etwas vom Schlimmsten in der Bildungspolitik. Viele Lehrer haben genug davon, dass man eine Reform startet und wieder abbricht.
Eine Nationalfonds-Studie hat gezeigt, dass jeder dritte Lehrer Burn-out-gefährdet  ist. Besorgt Sie das?
Wir haben im Kanton Bern eine eigene Untersuchung gemacht und sind zu einem ähnlichen Befund gekommen. Lehrpersonen sind mit ihrem Beruf sehr verbunden. Und in Berufen mit hohem Commitment ist das Burn-out-Risiko hoch: Wenn es nicht gut läuft, wird es schnell sehr schwierig. Dann nimmt die Berufszufriedenheit rapide ab.
Klagen die Lehrer auf hohem Niveau?
Das glaube ich nicht. Burn-out hat viel damit zu tun, dass man keine Wertschätzung bekommt. Dass man das Gefühl hat, man hat einen hohen zeitlichen und emotionalen Einsatz und es kommt kein Feedback. Dann hat man vielleicht noch schwierige Schüler, Konflikte mit den Eltern. Und am Schluss muss man sich Sprüche anhören wie: «Diese Lehrer mit ihren vielen Ferien.»
Das Unterrichten fordert mehr als früher?
Die Erziehung der Kinder hat sich verändert, es ist schwieriger geworden, Schule zu geben. Für mich ist das grösste bildungspolitische Thema, wie wir das latente Überforderungsgefühl der Lehrer wegbringen.
Auch bei den Schülern sind viele am Limit, immer mehr sitzen in der Nachhilfe. Ein Versagen der Schule?
Sie ist durch die Heterogenität der Schüler zum Teil überfordert. Hinzu kommt bei manchen Eltern ein hoher Ehrgeiz. Sie stellen Ansprüche an ihre Kinder, die kaum erfüllbar sind. Diese Kombination führt zu diesen hohen Nachhilfequoten.
Wie haben Sie Ihre eigene Schulzeit erlebt?
Ich habe sie in guter Erinnerung. Ich hatte sehr viele Lehrer und staune manchmal, wenn man heute sagt, ein Kind habe so wahnsinnig viele Lehrer. Das war früher nicht anders.
Waren Sie ein guter Schüler?
Ja.
Ein Streber?
Das nicht, die Schule ist mir aber immer leichtgefallen. Ich musste nicht kämpfen. Deshalb konnte ich mich nebenbei noch politisch engagieren.
Sie waren schon als Schüler aktiv?
Ja, im Gymnasium, ab dem 9. Schuljahr. Der Häuserabbruch im Quartier  Länggasse war damals ein Thema.
Haben Sie Häuser besetzt?
Nein, dafür bin ich nicht der Typ. Ich bin zu korrekt. Aber ich habe Unterschriften  für Petitionen gegen den Häuserabbruch gesammelt. Später kam dann die AKW-Bewegung.
Sie sind seit 2006 Erziehungs direktor. Was haben Sie für Zukunftspläne?
Ich bleibe noch ein paar Jahre Erziehungsdirektor. Von den politischen Jobs, die man in der Schweiz machen kann, ist Erziehungsdirektor im zweisprachigen Kanton Bern etwas vom Spannendsten. Später möchte ich gerne mal wieder unterrichten. Ich hatte früher an der Uni zwei Jahre einen Lehrauftrag. Das habe ich sehr genossen.
Zieht es Sie nicht ins Bundeshaus?
Das gehört nicht zu meinen Plänen.
Man spricht Ihnen Bundesratsformat zu und prophezeit, dass Sie als erster Politiker der Grünen in die Landesregierung einziehen werden.
Das hat man schon vor vier Jahren gesagt. Ich habe zum Glück nicht zu viele Gedanken daran verschwendet. Diese Frage hat sich gar nie gestellt. Sie stellt sich meiner Meinung nach auch jetzt nicht.
Und wenn doch?
Wenn sie sich eines Tages wirklich stellen würde, werde ich sie dann beantworten.


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