11. November 2014

Alle werden profitieren

Die «Neue Zürcher Zeitung» hat sich in ihrer Samstagausgabe gegen die Klassengrössen-Initiative ausgesprochen. Mit ihrer Argumentation liegt sie gleich auf zwei Ebenen falsch. Auf der Ebene der Bildungsqualität stützt sie sich auf wissenschaftliche Studien. Diese besagen, dass die meisten Schülerinnen und Schüler dem Unterricht auch in grösseren Klassen folgen könnten. Unsere Erfahrungen im Schulalltag zeigen dagegen: Dies gilt nur für sehr gute und gute Schülerinnen und Schüler. Schulisch mittelmässige und schwache Kinder und Jugendliche würden sehr stark profitieren, wenn die Lehrerinnen und Lehrer dank kleineren Klassen mehr Zeit für sie hätten.
Alle werden profitieren, NZZ, 11.11. von Lilo Lätzsch

Ich unterrichte eine 3.-Sekundar-Klasse mit 25 Jugendlichen. Ich tue mein Bestes, um sie alle für den Übergang in eine Lehre oder eine andere Anschlusslösung fit zu machen. Doch wäre die Klasse kleiner, könnte ich für den Einzelnen und die Einzelne mehr tun. Eine Lektion dauert 45 Minuten. Im Sprachunterricht etwa würde jeder und jede Einzelne in einer kleineren Klasse mehr mündliche Partizipationsmöglichkeiten erhalten.
Für die hohe Belastung der Lehrkräfte macht es zudem einen Unterschied, ob 25 oder 20 Aufsätze zu korrigieren sind. Angesichts ihrer vielen Überstunden helfen sich die Lehrer selber, indem sie einfach weniger Aufsätze schreiben lassen. Für die Bildungsqualität ist dies der falsche Weg. Wer diese hochhält, muss der Klassengrössen-Initiative zustimmen. Die Mitglieder des Lehrerinnen- und Lehrervereins ZLV haben diesen Zusammenhang in einer Umfrage bestätigt, in der sie zu grosse Klassen als stärksten Belastungsfaktor bezeichneten.
Falsch liegt die NZZ mit ihrer Schlussfolgerung auch auf politischer Ebene. Sie anerkennt zwar die Überlastung der Lehrpersonen, doch sei die Klassengrössen-Initiative das falsche Instrument. Am Ende folgt ein vager Hinweis, es brauche feineres Werkzeug. Um was es sich dabei handeln könnte, wird nicht gesagt. Immerhin wird noch darauf hingewiesen, dass in den letzten Jahren fast alle Vorschläge zur Entlastung der Lehrpersonen abgeschmettert wurden, etwa im nahezu wirkungslosen Projekt Belastung/Entlastung der Bildungsdirektion. Ein weiteres Beispiel verdeutlicht, weshalb die Lehrpersonen frustriert sind. Kürzlich unterbreitete der ZLV den politisch Verantwortlichen einen differenzierten Vorschlag zur Belastungsreduktion. Dieser hätte erlaubt, bezüglich Klassengrösse die individuelle Situation in jeder Klasse zu berücksichtigen. Die Bildungsdirektion und die kantonsrätliche Kommission für Bildung und Kultur wiesen ihn ohne genaue Prüfung ab.
Motivierte Lehrerinnen und Lehrer, die genügend Zeit für den einzelnen Schüler und die einzelne Schülerin haben, sind der Schlüssel zu einer gelingenden Schule. Eine solche ist für die Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern ebenso wichtig wie für die heimische Wirtschaft. Die Investitionen in die Zürcher Volksschule sollen Früchte tragen - für alle. Die Stimmberechtigten können dies mit einem Ja zur Klassengrössen-Initiative und als zweitbeste Lösung zum Gegenvorschlag des Kantonsrats sicherstellen.
Lilo Lätzsch ist Präsidentin des Zürcher Lehrerverbands ZLV

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