22. Oktober 2014

"Verfassung ist auslegungsbedürftig"

Kantone erfüllen das Harmos-Konkordat, auch wenn sie den Lehrplan 21 nicht umsetzen. Dies sagt Hans Ambühl, Generalsekretär der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK).



Ambühl:" Was es sicher nicht braucht, sind Ultimaten an die Adresse der EDK".

"Die Kantone sind handlungsfähig", NZZ, 22.10. von Michael Schoenenberger



Herr Ambühl, es gibt Bundespolitiker, die den Sprachenstreit auf Bundesebene regeln wollen. Haben Sie Freude daran?
Mir als Föderalisten macht das keine Freude. Es ist auch nicht nötig, jetzt über eine Intervention des Bundes im Bereich der Harmonisierung der obligatorischen Schule laut nachzudenken. Denn die Kantone erstellen momentan die Bilanz dazu. Diese wird sämtliche Eckwerte umfassen, welche die Bundesverfassung zu harmonisieren verlangt. Sie wird Mitte 2015 vorliegen und ist abzuwarten.
Die zuständige Bildungskommission des Nationalrats macht aber Druck auf die kantonalen Erziehungsdirektoren.
Es geht vorwärts: Derzeit wird das Sprachenkonzept der EDK in 23 Kantonen umgesetzt. So etwas braucht im Bildungssystem Zeit.
Aber es gibt doch heftige Opposition gegen das EDK-Modell 3/5, also den Unterricht von zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe ab der 3. und 5. Klasse.
Es gibt Debatten. Aber man darf die Übungsanlage nicht ändern, bevor sie überhaupt ordentlich eingeführt und evaluiert worden ist.
Die Bundesverfassung verpflichtet die Kantone, die Ziele des Fremdsprachenunterrichts zu harmonisieren. Einzelne Kantone dürfen nicht ausscheren.
Ja, ein Ausbrechen einzelner Kantone steht im Widerspruch zur Harmonisierungspflicht der Verfassung. Deswegen sind wir auch herausgefordert.
Wie erklären Sie sich den Druck, den Bundespolitiker machen. Ist das alles nur Profilierung?
Das kann ich nicht sagen. Jedenfalls sind es unterschiedliche Einschätzungen. Bei der erstmaligen Umsetzung der Bildungsverfassung ist ein geordnetes Vorgehen äusserst wichtig, es geht auch um den Stil und die Respektierung der Rollen der Beteiligten. Was es sicher nicht braucht, sind Ultimaten an die Adresse der EDK und der Kantone.
Hat die EDK eine Präferenz, wenn auf der Primarstufe nur noch eine Fremdsprache unterrichtet würde?
Das zeichnet sich unseres Erachtens nicht ab. Für die EDK ist überdies völlig klar, dass der Unterricht einer zweiten Landessprache auf der Primarstufe beginnen soll. Es wäre undenkbar, 4 Jahre lang angelsächsische Kultur und Sprache zu vermitteln und mit den Landessprachen erst auf der Sekundarstufe I zu beginnen. Das wäre nicht unser Verständnis eines mehrsprachigen Landes.
Zeigt das Beispiel der Sprachenfrage nicht idealtypisch auf, dass begonnene Harmonisierungen und Zentralisierungen stets nach weiteren Schritten rufen?
Das ausgesprochen subsidiäre Konzept, das wir im Bildungsbereich gewählt haben, zeigt gerade das Gegenteil. Schule und Bildung machen einen grossen Teil des heutigen Föderalismusverständnisses aus. Die Hoheit der Kantone ist gewahrt. Jedoch überschreiten die Menschen auf ihren Bildungswegen die kantonalen Grenzen schneller als früher. Die kantonalen Bildungssysteme müssen sinnvoll aufeinander abgestimmt werden. Das heisst aber nicht, dass sie zentral zu steuern wären. Für das Bildungsgeschehen ist besser gesorgt, wenn es dezentral verantwortet wird.
Macht die Harmonisierung der letzten Jahre die Bildung besser?
Das würde ich so nie formulieren. Bildung und staatliches Engagement in der Bildung sind immer sehr abhängig von den Umständen einer jeweiligen Zeit. Wenn wir es so machten wie unsere Vorfahren vor hundert Jahren, die es gut machten, würden wir scheitern.
Derzeit gibt es Widerstand gegen Harmonisierungsbestrebungen. Hat die EDK zu viel harmonisiert?
Wenn ich das daran messe, wie wir bis vor wenigen Jahren von allen Parteien und Medien geradezu gedrängt worden sind, endlich umfassend zu harmonisieren, dann sicher nicht. Wir harmonisieren nur die wichtigsten Ziele und Strukturen der obligatorischen Schule.
Der Lehrplan 21 geht weit über einen reinen Zielbeschrieb hinaus. Wäre dem Verfassungsauftrag nicht Genüge getan mit den EDK-Grundkompetenzen?
Wie man den Verfassungsauftrag versteht, ist eine politische Ermessensfrage. Das Harmos-Konkordat sagt nur, dass die Zielharmonisierung, soweit sie über die gesamtschweizerisch definierten Grundkompetenzen hinausgeht, Sache der Sprachregionen ist. Das Konkordat schreibt keine sprachregionalen Lehrpläne vor, aber eine Harmonisierung der Lehrpläne innerhalb der Sprachregion. Jeder Kanton der Deutschschweiz bleibt frei, ob und wie er den Lehrplan 21 anwendet.
Ein Kanton muss also nur die EDK-Grundkompetenzen übernehmen, nicht aber den Lehrplan 21, um den Verfassungsauftrag zu erfüllen?
Ob dieser Kanton der Verfassung Genüge tut, ist eine Ermessensfrage. Denn die Verfassung ist auslegungsbedürftig in Bezug auf Weg und Ausmass der Zielharmonisierung. Aber dem Harmos-Konkordat würde der Kanton nachkommen, sofern er sich an die gesamtschweizerischen Grundkompetenzen hält und seinen Lehrplan innerhalb seiner Sprachregion abstimmt.
Mit der Harmonisierung geht Wettbewerb verloren. Wäre es nicht besser, die Kantone würden ihre eigenen Konzepte entwickeln, die aufgrund der Konkurrenz besser würden?
Wettbewerb gibt es weiterhin in vielen Bereichen. Denken Sie an die Schulorganisation, etwa die Eingangsstufe und die Gliederung der Sekundarstufe I. Zu nennen sind überdies Promotion und Übertrittsverfahren, die Sonderpädagogik, die Qualitätssicherung, das Schul- und Personalrecht. Das ist gut so.
Umgekehrt beklagen die Akademien der Wissenschaften Schweiz eine fehlende nationale Bildungsstrategie.
Dabei machen wir ja seit zehn Jahren genau, was die Akademien fordern. Wenn die Autoren der Publikation genau hingeschaut hätten, wäre ihnen das nicht entgangen. Neben der horizontalen Zusammenarbeit zwischen den Kantonen hat sich die vertikale zwischen Kantonen und Bund etabliert. Dazu gehört ein gemeinsames Bildungsmonitoring und der darauf basierende Bildungsbericht. Ausgehend von diesem Bericht, formulieren Bund und Kantone auch gemeinsame Ziele auf der Ebene des Gesamtsystems. Bildung ist in der Schweiz allerdings keine Verbundaufgabe, sondern eine gemeinsame Besorgung eines Systems mit unterschiedlichen Zuständigkeiten.
Müsste nicht die Ausbildung von Medizinern als eine solche Verbundaufgabe definiert werden?
Das ist eines der wenigen Beispiele für eine Dysfunktion im Schweizer Bildungssystem. Wir haben die Aufgabe, den Widerspruch zwischen dem Ärztemangel und dem Numerus clausus aufzulösen. Ich will nicht ausweichen, aber es treffen hier mehrere Politikbereiche aufeinander. Es sind letztlich aus der Gesundheitspolitik herrührende Gründe, welche zum Numerus clausus führen. Klinische Ausbildungsplätze fehlen. Aber hier haben wir eine Zukunftsaufgabe, die es zu lösen gilt.
Wird das neue Hochschulkoordinationsgesetz mit der Hochschulkonferenz ab 2015 Abhilfe schaffen?
Das hoffe ich. Übrigens sind das Hochschul- und das Stipendienkonkordat der beste Beweis, dass Konkordate funktionieren, auch politische Konkordate. Die Kantone sind handlungsfähig.
Ein weiteres Problem ist der Fachkräftemangel. Muss der Staat nicht besser und mehr steuern?
Das kann der Staat nicht. Wollen wir denn ein System wie in der DDR, die den Menschen vorgeschrieben hat, was sie zu studieren haben? Nein, das wollen wir nicht. Wir müssen mit Anreizen arbeiten und Kinder früh sensibilisieren, etwa für Naturwissenschaften und Technik. Mit einer zentralen Steuerung durch eine Behörde ist in einer liberalen Gesellschaft überhaupt nichts gewonnen.

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