Quelle: NZZ, 2.10. von Erich Aschwanden
Die provokative Frage «Wie viel Politik erträgt die Schule?» stand 2009
im Mittelpunkt der Delegiertenversammlung des Dachverbands der Schweizer
Lehrerinnen und Lehrer (LCH). Die Diskussion war geprägt durch einige verlorene
Volksabstimmungen. Mehrere Kantone aus der Zentral- und Ostschweiz hatten es
abgelehnt, der interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der
obligatorischen Schule, kurz Harmos, beizutreten. Damals beklagten verschiedene
Tagungsteilnehmer, in den letzten Jahren sei zu wenig gründlich über Schule und
Bildung diskutiert worden. Es brauche die Einführung einer «Landsgemeindedemokratie»,
wurde im Rahmen einer Podiumsdiskussion verlangt. So könne verhindert werden,
dass Projekte wie Harmos und der Lehrplan 21 zum Scheitern verurteilt wären.
Bildungsfragen bewegen
Fünf Jahre später wird wohl niemand ernsthaft behaupten, Schul- und
Bildungsfragen würden von Politik und Öffentlichkeit als Quantité négligeable
behandelt. Die Frage, welche Fremdsprachen in den öffentlichen Schulen gelehrt
werden sollen und in welcher Reihenfolge, droht zu einer ernsthaften Belastung
für den eidgenössischen Zusammenhalt zu werden. Der von den Parlamenten
angestrebte Beitritt zum Harmos-Konkordat wurde in sechs Kantonen vom Volk
verworfen und in Obwalden vom Kantonsrat sistiert. In diversen Kantonen
konfrontierte die SVP beziehungsweise ihre Jungpartei die Stimmberechtigten an
der Urne mit der Frage, ob im Kindergarten nur noch in Mundart unterrichtet
werden darf.
Bereits zeichnet sich die nächste Schlacht auf dem bildungspolitischen
Terrain ab. Casus Belli ist der Lehrplan 21. Mit diesem Projekt sollen die
Ziele festgelegt werden für den Unterricht aller Stufen der Volksschule. Das
umfangreiche Werk soll das wichtigste Planungsinstrument für Lehrpersonen,
Schulen und Bildungsbehörden werden. Schon bevor der Lehrplan 21 Ende Oktober
von den Erziehungsdirektoren der Deutschschweiz definitiv verabschiedet wird,
steht das Harmonisierungsvorhaben im Gegenwind unterschiedlichster
Gruppierungen und Interessenvertreter.
Skepsis wurde zunächst in verschiedenen Kantonsparlamenten laut. Eine
weit über die SVP hinausgehende Gegnerschaft ist bemüht, die Einführung des
Lehrplans 21 von einer Sache der Bildungspolitiker zu einer Angelegenheit des
Volkes zu machen. Bisher fanden diese Versuche, das Volk oder wenigstens die
Volksvertreter in den Kantonsräten in dieser Sache urteilen zu lassen, kaum
Anklang bei den Entscheidungsträgern. Doch die Diskussion ist damit keineswegs
abgeschlossen. Inzwischen wurden bereits in mehreren Kantonen Volksinitiativen
lanciert oder zumindest angekündigt. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass an
verschiedenen Orten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger das letzte Wort haben
werden.
Für dieses Szenario spricht, dass auch an der Basis eine nicht zu
unterschätzende Unruhe festzustellen ist. Unabhängig von den politischen
Parteien formiert sich eine bunt gemischte Opposition, die von besorgten Eltern
bis zu weltverschwörerisch geprägten Gruppierungen reicht. Nicht gerade
förderlich für eine reibungslose Inkraftsetzung ist auch, dass inzwischen der
Lehrerdachverband der Einführung des Lehrplans 21 nur zustimmen will, wenn in
den Klassenzimmern genügend zeitliche und finanzielle Ressourcen vorhanden
sind. Das ist keine einfach zu erfüllende Forderung angesichts der zahlreichen
Sparpakete, die nicht zuletzt Einschnitte im Bildungswesen zur Folge haben.
Skeptisch reagieren teilweise auch wirtschaftsnahe Stimmen, denen die
wettbewerbskritische Ausrichtung des Lehrplans 21 missfällt.
Vertrauen schaffen
Die Erziehungsdirektoren der 21 beteiligten Kantone tun gut daran, diese
breite Palette von Bedenken bei der Überarbeitung des Projekts in Betracht zu
ziehen. Vor allem aber ist es notwendig, eine breite und sachliche Diskussion
in der politischen Arena zu führen, sobald der Lehrplan 21 definitiv vorliegt.
Bisher war die Ausarbeitung des grössten bildungspolitischen Vorhabens seit
Bestehen des Bundesstaates, wie es etwas hochtrabend schon genannt wurde, fast
ausschliesslich eine Sache von und für Experten. Die Politik muss sich auf die
geforderte «Landsgemeindedemokratie» einlassen, um einen Flickenteppich wie bei
Harmos zu verhindern.
Es gilt das Vertrauen zu schaffen, das im Schulwesen angesichts
zahlreicher Reformen in den letzten Jahren gelitten hat. Nur ein breit
abgestützter und akzeptierter Lehrplan 21 kann die ihn gesetzten, hohen
Erwartungen erfüllen.
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