Liessmann: Es beginnt zu knirschen zwischen den Lehrplanschreibern und den Praktikern, Bild: Erol Gurian
"Gestohlene Lebenszeit", Weltwoche 40/2014 von Markus Schär
Herr Liessmann, Sie schreiben:
«Die Schweiz ist in der glücklichen Lage, ein einigermassen bewährtes und auch
einigermassen erfolgreiches Bildungssystem zu haben.»
Genau.
Danke für die Blumen. Schweizer
Bildungsexperten sehen unsere Schulen viel kritischer.
Darüber
wundere ich mich manchmal. In Deutschland und Österreich fordern die Experten
Reformen, weil wir bei den Pisa-Tests so schlecht abschneiden. Das trifft für die
Schweiz eher nicht zu. Und in Österreich läuft eine heftige Debatte: Wo stehen
unsere Hochschulen? In den Rankings finden wir sie auf Platz 175 oder 220 oder
weiss Gott wo. Die kleine Schweiz hat aber zwei weltberühmte Hochschulen. Da
fragt man sich doch: Warum glaubt ein Land, das sich so auszeichnet, teure und
problematische Bildungsreformen durchführen zu müssen? Nur weil es gerade Mode
ist?
Es gibt für Sie «keinen Vorwand
für Reformbedürftigkeit» – bei uns laufen aber seit zwanzig Jahren ständig Reformen.
Woher kommt dieser Furor?
Das
ist mir ein Rätsel. Einerseits gehören Bildungseinrichtungen ja zu jenen Institutionen,
die ihren Zweck umso besser erfüllen, je stabiler sie sind. Anderseits kämpft
jedes Bildungssystem mit dem Vorwurf, es könne sich nicht an veränderte
Bedingungen anpassen. Daraus ergibt sich der Gedanke, dass Bildung stets
zusammenfällt mit ihrer Reform.
Wo begegnet Ihnen dieser
Gedanke?
In
Debatten höre ich Sätze wie: «Es ist unerträglich, dass wir immer noch ein
Bildungssystem haben, das aus dem 19. Jahrhundert stammt.» Da frage ich zurück:
«Leben wir in unterschiedlichen Welten? Seit Jahrzehnten stossen wir jedes Jahr
eine Reform an. Wie kommen Sie nur auf Ihre Idee?» Die Antwort – in Österreich
– ist: «Wir haben immer noch die 50-Minuten-Stunde.» Dass man an diesem Takt
festhält, weil er sich bewährt hat, kommt niemandem mehr in den Sinn. Alles,
was länger als zwei Jahre währt, steht im Bildungssystem unter Verdacht.
Für Reformen spricht, dass seit
zwanzig Jahren die Globalisierung den Wettbewerb massiv verschärft. Da schreckt
uns der Gedanke auf: «Achtung, unser Bildungssystem genügt nicht mehr!»
Alle
argumentieren so, aber sie konstruieren dabei auch falsche Zusammenhänge. Die
Schweiz ist ein interessantes Beispiel: Sie ist eines der wirtschaftlich
erfolgreichsten Länder – dabei entspricht ihr Bildungssystem mit dem
differenzierten Schulsystem, der dualen Berufsbildung, der niedrigen
Maturanden- und Akademikerquote überhaupt nicht den Kriterien, die gemäss OECD
zum Erfolg führen. Es gibt also eine Ideologie, dass wir unser Bildungssystem
aufgrund des verschärften Wettbewerbs umbauen müssen. Aber sogar empirische
Bildungsforscher überprüfen diese Ideologie nicht. Sie sehen deshalb auch
nicht, dass ein stabiles Bildungssystem, in dem Kinder, Jugendliche und Eltern
wissen, was sie zu erwarten haben, ein Wettbewerbsvorteil sein könnte.
Heute stehen wir bei Pisa nicht
schlecht da. Aber bei der ersten Studie schockte uns der Vergleich, als wir
sahen, dass die Finnen und die Südkoreaner viel mehr erreichen.
Es
war anfangs vielleicht ein heilsamer Schock, dass wir uns mit anderen
verglichen. Ich bleibe aber Skeptiker, was Pisa betrifft, dies aus zwei
Gründen. Einerseits vertritt Pisa einen extrem verengten Bildungsbegriff; es
werden nur drei Dimensionen getestet, und dies auf eine Weise, die unserer
mitteleuropäischen Wissens- und Prüfungskultur nicht entspricht. Das führte
anfangs zu Verzerrungen, vor Pisa kannten wir Multiple-Choice-Tests kaum. Wer
nun lernt, damit umzugehen, schneidet besser ab. Pisa testet also, wie gut sich
Länder auf Pisa-Testfragen einstellen, sonst gar nichts. Anderseits müssen Sie
sehen, was der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger in einem lesenswerten Buch
über «sinnlose Wettbewerbe» zeigt: Stehen die Absolventen eines Schweizer
Gymnasiums im Wettbewerb mit den Absolventen einer lappländischen Gesamtschule?
Natürlich nicht, die Pisa-Tests erzeugen also eine völlig unnötige Panik und
Hektik.
Seit Jahrzehnten beklagen
Gesellschaftskritiker die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Aber letztlich
geht es doch um die einfache – ökonomische – Frage: Was schaut bei den Mitteln,
die wir reinstecken, an Ertrag raus? Was soll an dieser Frage unsittlich sein?
An
der Frage gar nichts. Unsittlich ist, wie wir den Ertrag definieren. Darüber
herrscht ja keine Einigkeit. Unsittlich und darüber hinaus dumm ist es, zu
sagen, der Ertrag einer Schule lasse sich mit ihrem Abschneiden bei Pisa-Tests
messen. Und es ist unsittlich und nicht weniger dumm, wenn wir zu wissen
glauben, was wir in Zukunft brauchen.
Was muss denn für Sie in der
Schule als Ertrag herausschauen?
In
der Grundschule ist das Beherrschen der Kulturtechniken unerlässlich. Die
Kinder müssen also lesen, schreiben und rechnen können und Basiswissen
gewinnen. Eine Schule versagt nicht, wenn sie keine Kurse für den Umgang mit
Computern oder Smartphones anbietet. Das lernen die Schüler ohnehin selber. Wir
führten ja in den fünfziger Jahren auch kein Schulfach «Fernsehen» ein, als der
Fernseher aufkam. Darüber hinaus glaube ich schon, dass die Schule die wesentlichen
Grundlagen unserer Kultur vermitteln sollte. Ein junger Mensch muss lernen, wie
man wissenschaftliche Erkenntnisse erarbeitet und umsetzt; er sollte wissen,
wie Gesellschaften und politische Systeme funktionieren; und er sollte auch
kennen, was früher altertümelnd «Kulturgüter» hiess. Kultur besteht zum
grossen Teil aus ihrer Geschichte, und die Kenntnisse dieser Geschichte muss
die Schule vermitteln.
Sie können an der Uni nicht
einmal mehr Grundkenntnisse der Bibel voraussetzen.
So
ist es, ja. Die Bibel war über Jahrhunderte die Grundlage des gemeinsamen
Wissens. Natürlich hat sie nicht mehr den Stellenwert wie in einem Haushalt des
18. Jahrhunderts, wo sie oft das einzige Buch war. Aber Sie können in kein
Museum gehen ohne Kenntnisse der Bibel – Sie verstehen gar nicht, was diese
Bilder zeigen.
Es ist eine der
Haupttätigkeiten von Lehrern, Leistungen zu messen. Aber sie wehren sich
erbittert dagegen, die eigenen Leistungen messen zu lassen.
Das
gilt für andere Berufe ebenso. Sie gehen auch nicht zum Arzt und sagen, nachdem
er Ihnen den Blutdruck gemessen hat: «Jetzt schauen wir mal, wie es bei Ihnen
aussieht.» Auch die Bildungsforscher, die so gerne messen, lassen sich nur
ungern selbst messen und bewerten – womöglich käme heraus, dass man ihre Stellen
auch einsparen kann.
«What gets measured gets done»,
heisst die wichtigste Management-Maxime.›››
Nein,
das Messen ist – zumindest im Bildungsbereich – nicht so wichtig, wie es die
Ideologie des Testens nahelegt. Es ist zwar eine klassische Aufgabe von
Lehrern, Leistungen von Schülern zu beurteilen und ihnen eine Rückmeldung zu
ihrem Leistungsverhalten zu geben. Aber wie wollen Sie die Leistung des Lehrers
messen? An der Anzahl Leute, die er zu einem Abschluss bringt? Wir kennen die
Evaluationen an Hochschulen, aufgrund deren das Einkommen der Dozenten an die
Leistungen der Studenten gekoppelt wird: Da werden die Studenten automatisch
besser. Selbstverständlich soll man diskutieren: Was ist ein guter Lehrer? Aber
es geht um qualitative Fragen: Was können wir von einer Lehrperson an
fachlichen Kenntnissen, an didaktischen Fertigkeiten, an sozialer Sensibilität
erwarten? Allerdings ist es selbst in grossen Metastudien nie gelungen, einen
wirklich verbindlichen Kriterienkatalog für einen guten Lehrer zu erarbeiten.
Denn die Schüler sind nicht alle gleich. Sie kennen das sicher aus Ihrer
eigenen Schulerfahrung: Ein Schüler liebt den Lehrer, sein Sitznachbar hasst
ihn.
In den Grundlagen zum Schweizer
Lehrplan 21 steht: «Der neue Lehrplan wird den Bildungsauftrag an die Schulen
kompetenzorientiert abfassen. Es wird beschrieben, was alle Schülerinnen und
Schüler können müssen.» Was können Sie da dagegen haben?
Viel.
Zum Beispiel halte ich es für einen Grundfehler, Kompetenzen nur als Können zu
definieren. Die Schulen sind nicht nur dazu da, Können zu erzeugen, sondern
auch dazu, Wissen zu vermitteln.
Geschieht das in unseren
Schulen nicht mehr?
Es
steht zumindest nicht mehr explizit in den Lehrplänen. Wenn es noch geschieht,
dann nur, weil sich Lehrer über den Lehrplan hinwegsetzen. Weiter soll die
Schule meiner Meinung nach auch Wissen vermitteln, das sich nicht in Können
überführen lassen muss. Gemäss den kompetenzorientierten Konzepten sollen die
Schüler alles Lernen mit einer Tätigkeit unter Beweis stellen. Es gibt aber
viele spannende Dinge, bei denen das nicht möglich oder sinnvoll ist.
Zum Beispiel?
Ich
nahm im Juni an einer Tagung in Zürich teil. Da schwärmte ein Mitautor des
Lehrplans 21 davon, dass die Schüler im Geschichtsunterricht nicht mehr sinnlos
Jahreszahlen auswendig lernen müssten, sondern nun Einsichten aus der
Geschichte in ihrer Lebenswelt anwenden könnten. Ich erlaubte mir die Frage:
«Wie schaut es denn aus, wenn der Schüler die Französische Revolution in
seiner Lebenswelt anwendet? Stellt er in seinem Garten eine Guillotine auf?» Es
gibt doch historisches Wissen, das wir hier und jetzt nicht anwenden können.
Vor zwanzig Jahren hätte jeder sagen können: «Warum muss ich wissen, wie die
Krim zur Ukraine kam?» Jetzt müssen wir es wissen, um zu erklären, warum es
dort Krieg gibt. Was heisst in diesem Fall «kompetenzorientiert»? Es heisst
gar nix.
Bei den alten Römern hiess es:
«Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.»
Der
Satz wird immer falsch zitiert, Seneca sagte: «Non vitae, sed scholae
discimus.» (Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.) Das war
natürlich ironisch gemeint. Aber ich glaube tatsächlich, die Schule sollte auch
ein Raum sein, wo man sich vom Leben zurückziehen kann – «scholé» hiess
ursprünglich «Musse». Der Sinn von Kultur ist es gerade, Dinge zu lernen, die
kein anstehendes Lebensproblem lösen müssen. Sie können den Satz des Pythagoras
lernen, ohne später als Landvermesser zu arbeiten. Die beglückendsten Momente
waren in meiner Schulzeit und sind es jetzt in meiner Lehrtätigkeit, mich in
eine Sache vertiefen zu können, ohne immer an die Anwendung zu denken – und am
Schluss zu merken: «Hoppla, das erklärt mir doch etwas, was mit mir zu tun
hat.»
Heute kommt es doch nicht mehr
darauf an, über Wissen zu verfügen, sondern darauf, es erarbeiten zu können.
Das
war immer so, auch die gebildetsten Menschen konnten nie alles wissen. Jeder
wusste: «Wenn ich etwas wissen will, muss ich in eine Bibliothek gehen.» Das
begann in der Antike mit der Bibliothek von Alexandria – so alt ist dieses
Konzept. Das Einzige, was sich geändert hat: Wir müssen nicht mehr ein Schiff
nach Alexandria besteigen, sondern nur das Smartphone einschalten. Um mich in
der Bibliothek orientieren zu können, musste ich aber etwas wissen. Und das
gilt – sogar in höherem Mass – auch für das Internet.
Sie spotten, die Jungen könnten
nicht einmal richtig googeln.
Ja,
weil sie zu wenig wissen. Es kommt eben auch darauf an, was ich selber weiss.
Selbst was ich wieder vergesse, hinterlässt Spuren in meiner Persönlichkeit.
Mit den Jungen wird es seit Sokrates
immer schlimmer. Sind Sie ein Kulturpessimist?
Nein,
ich sage auch nicht, es werde immer schlimmer. Ich sage nur: Viele
Möglichkeiten und Notwendigkeiten unserer Kultur enthalten wir den Jungen vor,
aus falscher Menschenfreundlichkeit – das muss nicht sein. Darum bin ich auch
gegen die einseitige Ausrichtung auf Projektarbeiten. Es bringt nichts, in
einem halben Jahr wie Archimedes das Phänomen des Auftriebs mit Hilfe von
Gummienten nochmals zu «entdecken»; das ist gestohlene Lebenszeit. Es ist gerade
das Wesen der Kultur, dass nicht jeder alle Erfahrungen selber machen muss.
Sonst gäbe es gar keinen Fortschritt.
Sie schreiben: «Der Widerstand
in der Schweiz dokumentiert, dass nicht mehr alles zähneknirschend akzeptiert
wird.»
Ja,
dieser Widerstand ist neu, es gab ihn weder in Deutschland noch in Österreich.
Er zeigt, dass es knirscht zwischen jenen, die den Lehrplan aushecken, und
jenen, die ihn umsetzen müssen.
Lässt sich denn über Lehrpläne
abstimmen? Wir Schweizer sind dafür berüchtigt, dass es in der direkten
Demokratie angeblich auch mal falsch herauskommt.
Ja,
ja. Bildungsinhalte sind vielleicht kein Fall für die direkte Demokratie, die
Rahmenbedingungen aber sehr wohl. Sie könnten die Schweizer fragen: «Wollt ihr
einen Lehrplan, in dem auf zehn Seiten steht, dass die Schüler lesen,
schreiben, sprechen und rechnen lernen sollen? Oder wollt ihr einen Lehrplan,
der auf fünfhundert Seiten vorschreibt, dass die Kinder in sechs Jahren 4500
Kompetenzen erwerben müssen?»
In der Schweiz haben Sie nur
die SVP auf Ihrer Seite. Damit sind Sie als Intellektueller erledigt.
Wieso?
Diese Initiativen gegen den Lehrplan 21 tragen – soviel ich weiss – auch linke
Lehrerverbände mit. Es wäre gefährlich, die Kritik an der Kompetenzorientierung
mit einer konservativen Position gleichzusetzen.
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