Der Bedarf an
zuverlässigen Informationen über die künftige Entwicklung der Berufs- und
Arbeitswelt ist in den letzten Jahren gestiegen. Der schneller werdende
technische Wandel und die Globalisierung der Produktion, um zwei der
augenfälligsten Entwicklungen zu nennen, haben dazu geführt, dass lange als
sicher geltende Berufe zunehmend bedroht erscheinen, während andere
Tätigkeiten, die mitunter neuartige Qualifikationen erfordern, an Bedeutung
gewinnen.
George Sheldon ist Professor für Arbeitsmarkt- und Industrieökonomie an der Universität Basel, Bild: Handelzeitung
Die Grenzen der Berufsprognostik, Basler Zeitung, 7.10. von George Sheldon
Das gesteigerte Interesse
an berufsperspektivischen Informationen wird hauptsächlich von zwei Seiten
gespeist. Zum einen von Jugendlichen und ihren Eltern, die wissen wollen,
welche Berufe in Zukunft am aussichtsreichsten erscheinen. Ein Berufsentscheid
hat in der Regel langfristige Konsequenzen und ist, einmal getroffen, oft
schwer rückgängig zu machen. Deshalb ist es wichtig zu erkennen, welche Berufe
sich über die längere Frist als besonders krisensicher und/oder als lukrativ
erweisen werden.
Zum
anderen sind Bildungspolitiker und die Verantwortlichen in Ämtern,
Berufsverbänden und Gewerkschaften an berufsperspektivischen Informationen
interessiert. Sind sie doch angehalten, die Bildungssysteme und -einrichtungen
auf erkennbare künftige Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt
vorzubereiten. Entsprechend haben sie die Aufgabe, sich abzeichnende
Entwicklungen in der Arbeitswelt aufzuspüren und diese in die Planung und Entscheidungsfindung
einfliessen zu lassen.
Es
besteht also fraglos ein breites Interesse an zuverlässigen Informationen über
die künftige Entwicklung der Berufs- und Arbeitswelt. Trotzdem kann die
Berufsprognostik den in sie gesetzten Erwartungen aus einer Reihe von Gründen
nur selten gerecht werden.
Zum
einen müssen Berufsprognosen, um nützlich zu sein, einen langen Prognosehorizont,
eine hohe Zuverlässigkeit und grosse Detaillierung besitzen. Man will genau
wissen, welche Berufe mit welcher Wahrscheinlichkeit erfolgsversprechend sein
dürften. Die Berufsprognostik kann aber jeweils nur zwei dieser Anforderungen
erfüllen. Beispielsweise sind langfristige Berufsprognosen mit grosser
beruflicher Detaillierung nur auf Kosten der Eintreffenswahrscheinlichkeit zu
erstellen. Dagegen lassen sich hohe Treffsicherheit und Langfristigkeit nur
zulasten der beruflichen Detaillierung erzielen. Dementsprechend können relativ
gut gesicherte Aussagen über die Beschäftigungsaussichten etwa von Akademikern
für einen verhältnismässig weiten Zeithorizont gemacht werden. Nicht aber
solche für einzelne Fachrichtungen. Diese sind nur für die kurze Frist erstellbar.
Gerade auf die lange Frist kann aus berufsberaterischer oder -planerischer
Sicht jedoch am wenigsten verzichtet werden, denn bei Akademikern ist der
zeitliche Abstand zwischen der Berufswahl und der Realisierung gross. Oftmals
werden bereits im Alter von 12 bis 16 Jahren die Weichen für eine akademische
Berufsausbildung gestellt. Informationen über den voraussichtlichen Bedarf
etwa an Lehrern im darauffolgenden Jahr sind für die Berufswahl oder die
Bildungsplanung von keinem grossen Nutzen.
Gleichzeitig
können gerade Berufsprognosen in besonderer Weise der Selbstzerstörung unterliegen,
da sie mögliche Rückkoppelungsmechanismen ausser Acht lassen. Würden sich
Jugendliche beispielsweise streng an die Aussagen von Berufsprognosen halten
und sich ausschliesslich für Berufe entscheiden, bei denen ein
Arbeitskräftemangel erwartet wird, könnte ein solches Kollektivverhalten zur
Folge haben, dass sich die relativen Knappheitsverhältnisse in ihr Gegenteil
verkehren würden: Dort, wo Defizite erwartet wurden, würden sich Überschüsse
einstellen, und dort, wo von Überschüssen ausgegangen worden war, würden sich
Defizite ergeben.
Bei
Berufsprognosen handelt es sich ausserdem um weitgehend pauschale
Durchschnittsaussagen, die von den persönlichen Voraussetzungen und Eignungen
des Einzelnen abstrahieren. Dementsprechend können die individuellen Chancen
eines Interessenten von diesen Durchschnittsaussagen recht stark abweichen.
Dies schränkt den Nutzen solcher Prognosen für den einzelnen Ratsuchenden
deutlich ein.
Angesichts
der begrenzten Vorhersehbarkeit der beruflichen Zukunft stellt sich die Frage
nach Alternativen. Aus der Sicht des Einzelnen besteht die sicherste Strategie
darin, sich breit auszubilden, damit ihm möglichst viele berufliche Laufbahnen
offen bleiben. Die erhöhte Sicherheit hat allerdings auch ihren Preis: Im
Berufsleben verdient der Generalist nicht selten weniger als der relativ knappe
Spezialist, der aber aufgrund der Enge seiner Qualifikation oft ein erhöhtes Arbeitslosigkeitsrisiko
trägt.
Angesichts
einer unsicheren Zukunft haben Bildungspolitiker die Aufgabe, das
Bildungssystem möglichst durchlässig zu gestalten, damit einmal getroffene
Bildungsentscheide bei Bedarf korrigiert werden können. Zu diesem Zweck sollen
nicht die Bildungswege, sondern in erster Linie die Bildungsziele und die
Leistungsanforderungen vorgegeben werden. Dadurch können mehrere
Qualifizierungsverfahren zum gleichen Abschluss führen.
Die
Durchlässigkeit des Weiterbildungssystems lässt sich auch durch eine Modularisierung
des Lehrstoffs fördern. In einem Modulsystem teilt sich der Lehrstoff in
einzelne Lerneinheiten bzw. Module auf, die etappenweise abgeschlossen werden.
Der Bildungsweg besteht somit aus einem Sammeln von Modulabschlüssen. Verschiedene
Modulkombinationen führen zu verschiedenen anerkannten Berufsabschlüssen. Auf
diese Weise kann der Bildungsweg des Einzelnen immer wieder neu aufgenommen
und fortgesetzt werden.
In
der Summe führen diese Strategien dazu, dass die Unzulänglichkeiten der
Berufsprognostik entschärft werden und eine höhere Beschäftigungssicherheit
erreicht wird.
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