10. Oktober 2014

Berufswahl: Breit ausgebildet oder Spezialistentum?

Der Bedarf an zuverlässigen Informationen über die künftige Entwicklung der Berufs- und Arbeitswelt ist in den letzten Jahren gestiegen. Der schneller werdende technische Wandel und die Globalisierung der Produktion, um zwei der augenfälligsten Entwicklungen zu nennen, haben dazu geführt, dass lange als sicher geltende Berufe zunehmend bedroht erscheinen, ­während andere Tätigkeiten, die mitunter ­neuartige Qualifikationen erfordern, an ­Bedeutung gewinnen.




George Sheldon ist Professor für Arbeitsmarkt- und Industrieökonomie an der Universität Basel, Bild: Handelzeitung

Die Grenzen der Berufsprognostik, Basler Zeitung, 7.10. von George Sheldon

Das gesteigerte Interesse an berufs­perspektivischen Informationen wird ­hauptsächlich von zwei Seiten gespeist. Zum einen von Jugendlichen und ihren Eltern, die ­wissen wollen, welche Berufe in Zukunft am ­aussichtsreichsten erscheinen. Ein Berufsentscheid hat in der Regel langfristige Konsequenzen und ist, einmal getroffen, oft schwer rückgängig zu machen. Deshalb ist es wichtig zu erkennen, welche Berufe sich über die längere Frist als besonders krisensicher und/oder als lukrativ erweisen werden.
Zum anderen sind Bildungspolitiker und die Verantwortlichen in Ämtern, Berufsverbänden und Gewerkschaften an berufsperspektivischen Informationen interessiert. Sind sie doch ­angehalten, die Bildungssysteme und -einrichtungen auf erkennbare künftige Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt vorzubereiten. ­Entsprechend haben sie die Aufgabe, sich ­abzeichnende Entwicklungen in der Arbeitswelt aufzuspüren und diese in die Planung und ­Entscheidungsfindung einfliessen zu lassen.
Es besteht also fraglos ein breites Interesse an zuverlässigen Informationen über die künftige Entwicklung der Berufs- und Arbeitswelt. ­Trotzdem kann die Berufsprognostik den in sie gesetzten Erwartungen aus einer Reihe von ­Gründen nur selten gerecht werden.
Zum einen müssen Berufsprognosen, um nützlich zu sein, einen langen Prognosehorizont, eine hohe Zuverlässigkeit und grosse Detaillierung besitzen. Man will genau wissen, welche Berufe mit welcher Wahrscheinlichkeit erfolgs­versprechend sein dürften. Die Berufsprognostik kann aber jeweils nur zwei dieser Anforderungen erfüllen. Beispielsweise sind langfristige Berufsprognosen mit grosser beruflicher Detaillierung nur auf Kosten der Eintreffenswahrscheinlichkeit zu erstellen. Dagegen lassen sich hohe Treffsicherheit und Langfristigkeit nur zulasten der beruflichen Detaillierung erzielen. Dementsprechend können relativ gut gesicherte Aussagen über die Beschäftigungsaussichten etwa von Akademikern für einen verhältnismässig weiten Zeithorizont gemacht werden. Nicht aber solche für einzelne Fachrichtungen. Diese sind nur für die kurze Frist erstellbar. Gerade auf die lange Frist kann aus berufsberaterischer oder -planerischer Sicht jedoch am wenigsten verzichtet werden, denn bei Akademikern ist der zeitliche Abstand zwischen der Berufswahl und der Realisierung gross. ­Oftmals werden bereits im Alter von 12 bis 16 Jahren die Weichen für eine akademische Berufsausbildung gestellt. Informationen über den ­voraussichtlichen Bedarf etwa an Lehrern im ­darauffolgenden Jahr sind für die Berufswahl oder die Bildungsplanung von keinem grossen Nutzen.
Gleichzeitig können gerade Berufsprognosen in besonderer Weise der Selbstzerstörung ­unterliegen, da sie mögliche Rückkoppelungs­mechanismen ausser Acht lassen. Würden sich Jugendliche beispielsweise streng an die ­Aussagen von Berufsprognosen halten und sich ausschliesslich für Berufe entscheiden, bei denen ein Arbeitskräftemangel erwartet wird, könnte ein solches Kollektivverhalten zur Folge haben, dass sich die relativen Knappheitsverhältnisse in ihr Gegenteil verkehren würden: Dort, wo ­Defizite erwartet wurden, würden sich ­Überschüsse einstellen, und dort, wo von ­Überschüssen ausgegangen worden war, würden sich Defizite ergeben.
Bei Berufsprognosen handelt es sich ausserdem um weitgehend pauschale Durchschnittsaussagen, die von den persönlichen Voraussetzungen und Eignungen des Einzelnen abstrahieren. Dementsprechend können die individuellen Chancen eines Interessenten von diesen Durchschnittsaussagen recht stark abweichen. Dies schränkt den Nutzen solcher Prognosen für den einzelnen Ratsuchenden deutlich ein.
Angesichts der begrenzten Vorhersehbarkeit der beruflichen Zukunft stellt sich die Frage nach Alternativen. Aus der Sicht des Einzelnen besteht die sicherste Strategie darin, sich breit auszubilden, damit ihm möglichst viele berufliche Laufbahnen offen bleiben. Die erhöhte Sicherheit hat allerdings auch ihren Preis: Im Berufsleben verdient der Generalist nicht selten weniger als der relativ knappe Spezialist, der aber aufgrund der Enge seiner Qualifikation oft ein erhöhtes ­Arbeitslosigkeitsrisiko trägt.
Angesichts einer unsicheren Zukunft haben Bildungspolitiker die Aufgabe, das Bildungssystem möglichst durchlässig zu gestalten, damit ­einmal getroffene Bildungsentscheide bei Bedarf korrigiert werden können. Zu diesem Zweck ­sollen nicht die Bildungswege, sondern in erster Linie die Bildungsziele und die Leistungsanforderungen vorgegeben werden. Dadurch können mehrere Qualifizierungsverfahren zum gleichen Abschluss führen.
Die Durchlässigkeit des Weiterbildungssystems lässt sich auch durch eine Modularisierung des Lehrstoffs fördern. In einem Modulsystem teilt sich der Lehrstoff in einzelne Lerneinheiten bzw. Module auf, die etappenweise abgeschlossen ­werden. Der Bildungsweg besteht somit aus einem Sammeln von Modulabschlüssen. ­Verschiedene Modulkombinationen führen zu verschiedenen anerkannten Berufsabschlüssen. Auf diese Weise kann der Bildungsweg des ­Einzelnen immer wieder neu aufgenommen und fortgesetzt werden.
In der Summe führen diese Strategien dazu, dass die Unzulänglichkeiten der Berufsprognostik entschärft werden und eine höhere Beschäftigungssicherheit erreicht wird.

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