23. August 2014

Wie die Baselbieter Volksschule ruiniert wird

Ausgerechnet in Baselland. Im einstigen Pionierkanton für die Schulharmonisierung haben Eltern, Lehrer und Schüler die Nase gestrichen voll von Schulreformen. Bereits ist in Baselland eine Initiative für den Austritt aus dem Harmos-Konkordat lanciert. Unverbesserliche Bildungspolitiker rund um den Noch-Bildungsdirektor Urs Wüthrich warnen davor und prangern eine drohende «Verunsicherung» an. Lächerlich. Verunsichert sind längst alle. Eltern, Lehrer und Schüler. Nicht nur in Baselland.




Alle Menschen meinen es gut: Der Baselbieter Erziehungschef Wüthrich kann die Lehrer nicht verstehen, Bild: Margrit Müller


Zur verhängnisvollen Entwicklung der Schulreformen, Basler Zeitung, 23.8. von Thomas Dähler



Die Schweizer Bildungsharmonisierung ist ein Fiasko, wie sich heute, acht Jahre nach der eidgenössischen Abstimmung über den Bildungsrahmen­artikel herausstellt. Entstanden ist in den vergangenen Jahren landesweit ein riesiger Bildungssetzkasten voller Schulreformen, die Eltern, Schülern und Lehrer überfordern. Doch an das einstige Ziel, die kantonalen Schulsysteme mit diesen Reformen anzugleichen und zu verbessern, glauben nur noch die Bildungs­bürokraten. Abgesprungen sind vor allem jene, die für die Qualität der Schulen besorgt sein müssen: die Lehrerinnen und Lehrer.
Angefangen hat das Reformchaos weit vor der eidgenössischen Abstimmung vom Mai 2006. Daran erinnert hat kürzlich die Schlagzeile des Westschweizer Magazins L’Hébdo: «La guerre des langues est déclarée». Dies, weil die Romandie erschrocken ist, da mit dem Thurgau jetzt bereits der zweite Kanton in Aussicht stellt, den Französischunterricht aus der Primarschule zu verbannen. Doch der Thurgauer Entscheid ist bloss die späte Quittung für einen weit zurückliegenden Entscheid des Kantons Zürich, der die Harmonisierungswelle in der Schweiz angeschoben hat: 1998 beförderte der damalige Zürcher Erziehungsdirektor Ernst Buschor Englisch zur ersten Fremdsprache in den Primarschulen des grössten Kantons und erklärte damit den Landessprachen den Krieg. «Early English» war nach Auffassung des Christlichdemokraten das Allheilmittel für eine Akademisierung des nationalen Bildungssystems. Buschor, ein Gegner der dualen Berufsbildung, stritt für Gymnasien statt Berufsschulen und setzte mit der Einführung des Kinder­englisch eine technokratische Reformwelle in Gang, die in ein landesweites Bildungsdurcheinander mündete.
Die erbosten Romands, die zurecht um den nationalen Zusammenhalt fürchteten, antworteten dem «Early English» parlierenden Zürcher Schulboss mit Plänen für Frühdeutsch und Frühfranzösisch. Und wie es in der Schweiz so oft geschieht: Der Schulkompromiss lief darauf hinaus, dass alle alles einführen. Seither rackern sich Primarschülerinnen und -schüler im ganzen Land mit Frühenglisch, Frühdeutsch und Frühfranzösisch in unterschiedlicher Reihenfolge ab, obwohl es eigentlich gar nicht darauf ankommt, wie früh eine Sprache erlernt wird. Und inzwischen wird das Frühsprachen-Dogma auch mit dem später von Volk und Ständen mit hohen 85 Prozent Zustimmung abgesegneten Harmonisierungsrahmen legitimiert, obwohl dabei nichts harmoniert.
Harmonisierung abgesegnet
Auch der Bildungsrahmenartikel, der die Kantone zur strukturellen Schulharmonisierung verpflichtet, hat eine besondere Geschichte. Ein Rekordtief bei der Stimmbeteiligung verzeichnete die Schweiz an diesem Abstimmungssonntag, dem kein eigentlicher Abstimmungskampf vorausgegangen war. Der Wunsch nach mehr Gemeinsamkeiten in den Schweizer Schulhäusern war unbestritten und mochte nur bescheiden mobilisieren. Kaum jemand ahnte, wozu der abgesegnete nationale Konsens in der Folge herhalten musste: Heute berufen sich sämtliche Bildungsbürokraten zwischen Genf und St. Gallen für jede mögliche Schulreform auf das überwältigende Ja von Volk und Ständen zum Bildungsrahmenartikel: 85 Prozent landesweit, 90 Prozent gar im Baselbiet.
Der Kanton Basel-Stadt, immerhin, hat noch das Beste daraus gemacht: Der Harmonisierungsdruck war der willkommene Auslöser, um das exotische Bildungssystem mit Orientierungsschule, Weiterbildungsschule und Langgymnasium endlich über Bord werfen zu können. In der Stadt hatte man längst bemerkt, dass Städter bei der Lehrstellensuche zu oft gegen Bewerber aus anderen Kantonen chancenlos blieben. Doch Basel-Stadt ist ein Sonderfall. In den meisten Kantonen führte die Reformwut ins Verderben. Im Baselbiet zeichnet sich inzwischen ab, wie ruinös das Bildungsgebastel das bisher funktionierende Schulsystem beschädigt.
Längst geht es im Baselbiet nicht mehr um Frühfranzösisch und Früh­englisch, die aus Rücksicht auf die Romands immerhin noch in dieser Reihenfolge eingeführt werden. Der Lehrplan 21 nimmt den Pädagogen die Freiheit. Zwar hat er das Placet der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren noch nicht, de facto aber befindet sich der Lehrplan 21 – jetzt immerhin ohne Sexkoffer und Genderproblematik – bereits in der Einführungsphase. Das neue Kompetenzenverzeichnis löst den Schulstoff ab. Unterrichtet wird alles Mögliche, Hauptsache es lassen sich zum Schluss Kompetenzen feststellen. Lesen lernen ist nebensächlich, dafür können die Schüler jetzt «ihr Leseverhalten und ihr Leseinteresse reflektieren» und dies «als ästhetisch-literarische Bereicherung erfahren», wie es im Lehrplan 21 heisst. Aha! Der Wettbewerb, wer am besten lesen kann, entfällt. Dafür erfahren jetzt alle, dass Lesen bereichert. An die Stelle der Leistung tritt die Nivellierung. Der Lehrer wird vom Pädagogen zum Moderator. Ausgedacht haben dies weitergebildete ehemalige Lehrerinnen und Lehrer, die den Boden zur schulischen und beruflichen Realität verloren haben.
Dazu passt auch die Gleichschaltung der Leistungsniveaus auf der Sekundarstufe I mit einer einheitlichen Stundentafel für die Niveaus A, E und P. Ob Bewerbungsgespräche für Lehrstellen oder der Übertritt ins Gymnasium anstehen, steht nicht länger im Vordergrund. Das Ziel ist eine Art Gesamtschule mit drei Niveaus unter einem Dach, von einheitlich ausgebildeten Sekundarlehrkräften moderiert.
Zum Bildungsharmonisierungsfiasko beigetragen hat auch das vereinbarte Konkordat – das Mittel zur Umsetzung der Harmonisierung. Es dient heute vor allem dazu, die Entwicklung der Schulen der demokratischen Kontrolle durch die Kantonsparlamente und das Volk zu entziehen. Dasselbe gilt für das Sonderpä­dagogik-Konkordat: Einst den Stimmberechtigten als Integra­tionsgeste für Behinderte und schwierige Schüler verkauft, dient es heute vor allem der Ausweitung eines ausufernden Supportangebots einer immer grösser werdenden Zahl stigmatisierter Kinder. Im Kanton Zürich wurde kürzlich Alarm geschlagen, weil die Sonderschulquote steigt statt wie versprochen sinkt. Im Baselbiet hat der Landrat die Vorlage zur Integrativen Schule vorerst mal an die Regierung zurückgeschickt.
Die Kosten steigen unaufhörlich
Inzwischen zeigt sich im Kanton Baselland vor allem eines: Die Bildung auf der Stufe der Volksschule wird immer teurer. Die vielen Reformen beschäftigen die kantonale Verwaltung, die neuen Lehrpläne und die veränderten Strukturen verführen zu einer überbordenden Schulhaus-Bautätigkeit durch den Kanton und die Gemeinden, das Supportangebot für nicht ganz verhaltenskonforme Schüler befeuert eine ständig wachsende Nachfrage und die Einführung der zusätzlichen Frühsprache und die Erfindung der neuen Sammelfächer zwingen die Lehrkräfte zu einer teuren Weiterbildung, die weit über die blosse Anpassung der Schulstruktur zwischen den Kantonen hinausgeht. Erfahren hat all dies eine breite Öffentlichkeit erst im Nachhinein. Weder bei der eidgenössischen Abstimmung über den Bildungsrahmenartikel noch bei den kantonalen Abstimmungen über den Beitritt zum Harmos-Konkordat oder zum Sonderpädagogik-Konkordat wurden die Stimmberechtigten über diese Entwicklung aufgeklärt. Der Baselbieter Bildungsdirektor wähnt sich weiterhin auf dem richtigen Kurs und begegnet dem wachsenden Widerspruch mit Empörung. Dabei müsste er sich nur bei seiner besorgten Lehrerschaft umhören.

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