Alle Menschen meinen es gut: Der Baselbieter Erziehungschef Wüthrich kann die Lehrer nicht verstehen, Bild: Margrit Müller
Zur verhängnisvollen Entwicklung der Schulreformen, Basler Zeitung, 23.8. von Thomas Dähler
Die Schweizer Bildungsharmonisierung
ist ein Fiasko, wie sich heute, acht Jahre nach der eidgenössischen Abstimmung
über den Bildungsrahmenartikel herausstellt. Entstanden ist in den vergangenen
Jahren landesweit ein riesiger Bildungssetzkasten voller Schulreformen, die
Eltern, Schülern und Lehrer überfordern. Doch an das einstige Ziel, die
kantonalen Schulsysteme mit diesen Reformen anzugleichen und zu verbessern,
glauben nur noch die Bildungsbürokraten. Abgesprungen sind vor allem jene, die
für die Qualität der Schulen besorgt sein müssen: die Lehrerinnen und Lehrer.
Angefangen hat das
Reformchaos weit vor der eidgenössischen Abstimmung vom Mai 2006. Daran
erinnert hat kürzlich die Schlagzeile des Westschweizer Magazins L’Hébdo: «La
guerre des langues est déclarée». Dies, weil die Romandie erschrocken ist, da
mit dem Thurgau jetzt bereits der zweite Kanton in Aussicht stellt, den
Französischunterricht aus der Primarschule zu verbannen. Doch der Thurgauer
Entscheid ist bloss die späte Quittung für einen weit zurückliegenden Entscheid
des Kantons Zürich, der die Harmonisierungswelle in der Schweiz angeschoben
hat: 1998 beförderte der damalige Zürcher Erziehungsdirektor Ernst Buschor
Englisch zur ersten Fremdsprache in den Primarschulen des grössten Kantons und
erklärte damit den Landessprachen den Krieg. «Early English» war nach
Auffassung des Christlichdemokraten das Allheilmittel für eine Akademisierung
des nationalen Bildungssystems. Buschor, ein Gegner der dualen Berufsbildung,
stritt für Gymnasien statt Berufsschulen und setzte mit der Einführung des
Kinderenglisch eine technokratische Reformwelle in Gang, die in ein
landesweites Bildungsdurcheinander mündete.
Die erbosten Romands,
die zurecht um den nationalen Zusammenhalt fürchteten, antworteten dem «Early
English» parlierenden Zürcher Schulboss mit Plänen für Frühdeutsch und
Frühfranzösisch. Und wie es in der Schweiz so oft geschieht: Der
Schulkompromiss lief darauf hinaus, dass alle alles einführen. Seither rackern
sich Primarschülerinnen und -schüler im ganzen Land mit Frühenglisch,
Frühdeutsch und Frühfranzösisch in unterschiedlicher Reihenfolge ab, obwohl es
eigentlich gar nicht darauf ankommt, wie früh eine Sprache erlernt wird. Und
inzwischen wird das Frühsprachen-Dogma auch mit dem später von Volk und Ständen
mit hohen 85 Prozent Zustimmung abgesegneten Harmonisierungsrahmen legitimiert,
obwohl dabei nichts harmoniert.
Harmonisierung
abgesegnet
Auch der
Bildungsrahmenartikel, der die Kantone zur strukturellen Schulharmonisierung
verpflichtet, hat eine besondere Geschichte. Ein Rekordtief bei der
Stimmbeteiligung verzeichnete die Schweiz an diesem Abstimmungssonntag, dem
kein eigentlicher Abstimmungskampf vorausgegangen war. Der Wunsch nach mehr
Gemeinsamkeiten in den Schweizer Schulhäusern war unbestritten und mochte nur
bescheiden mobilisieren. Kaum jemand ahnte, wozu der abgesegnete nationale
Konsens in der Folge herhalten musste: Heute berufen sich sämtliche
Bildungsbürokraten zwischen Genf und St. Gallen für jede mögliche Schulreform
auf das überwältigende Ja von Volk und Ständen zum Bildungsrahmenartikel: 85
Prozent landesweit, 90 Prozent gar im Baselbiet.
Der Kanton Basel-Stadt,
immerhin, hat noch das Beste daraus gemacht: Der Harmonisierungsdruck war der
willkommene Auslöser, um das exotische Bildungssystem mit Orientierungsschule,
Weiterbildungsschule und Langgymnasium endlich über Bord werfen zu können. In
der Stadt hatte man längst bemerkt, dass Städter bei der Lehrstellensuche zu
oft gegen Bewerber aus anderen Kantonen chancenlos blieben. Doch Basel-Stadt
ist ein Sonderfall. In den meisten Kantonen führte die Reformwut ins Verderben.
Im Baselbiet zeichnet sich inzwischen ab, wie ruinös das Bildungsgebastel das
bisher funktionierende Schulsystem beschädigt.
Längst geht es im
Baselbiet nicht mehr um Frühfranzösisch und Frühenglisch, die aus Rücksicht
auf die Romands immerhin noch in dieser Reihenfolge eingeführt werden. Der
Lehrplan 21 nimmt den Pädagogen die Freiheit. Zwar hat er das Placet der
Deutschschweizer Erziehungsdirektoren noch nicht, de facto aber befindet sich
der Lehrplan 21 – jetzt immerhin ohne Sexkoffer und Genderproblematik – bereits
in der Einführungsphase. Das neue Kompetenzenverzeichnis löst den Schulstoff
ab. Unterrichtet wird alles Mögliche, Hauptsache es lassen sich zum Schluss
Kompetenzen feststellen. Lesen lernen ist nebensächlich, dafür können die
Schüler jetzt «ihr Leseverhalten und ihr Leseinteresse reflektieren» und dies
«als ästhetisch-literarische Bereicherung erfahren», wie es im Lehrplan 21
heisst. Aha! Der Wettbewerb, wer am besten lesen kann, entfällt. Dafür erfahren
jetzt alle, dass Lesen bereichert. An die Stelle der Leistung tritt die
Nivellierung. Der Lehrer wird vom Pädagogen zum Moderator. Ausgedacht haben
dies weitergebildete ehemalige Lehrerinnen und Lehrer, die den Boden zur
schulischen und beruflichen Realität verloren haben.
Dazu passt auch die
Gleichschaltung der Leistungsniveaus auf der Sekundarstufe I mit einer
einheitlichen Stundentafel für die Niveaus A, E und P. Ob Bewerbungsgespräche
für Lehrstellen oder der Übertritt ins Gymnasium anstehen, steht nicht länger
im Vordergrund. Das Ziel ist eine Art Gesamtschule mit drei Niveaus unter einem
Dach, von einheitlich ausgebildeten Sekundarlehrkräften moderiert.
Zum
Bildungsharmonisierungsfiasko beigetragen hat auch das vereinbarte Konkordat –
das Mittel zur Umsetzung der Harmonisierung. Es dient heute vor allem dazu, die
Entwicklung der Schulen der demokratischen Kontrolle durch die
Kantonsparlamente und das Volk zu entziehen. Dasselbe gilt für das Sonderpädagogik-Konkordat:
Einst den Stimmberechtigten als Integrationsgeste für Behinderte und
schwierige Schüler verkauft, dient es heute vor allem der Ausweitung eines
ausufernden Supportangebots einer immer grösser werdenden Zahl stigmatisierter
Kinder. Im Kanton Zürich wurde kürzlich Alarm geschlagen, weil die
Sonderschulquote steigt statt wie versprochen sinkt. Im Baselbiet hat der
Landrat die Vorlage zur Integrativen Schule vorerst mal an die Regierung
zurückgeschickt.
Die Kosten steigen
unaufhörlich
Inzwischen zeigt sich
im Kanton Baselland vor allem eines: Die Bildung auf der Stufe der Volksschule
wird immer teurer. Die vielen Reformen beschäftigen die kantonale Verwaltung,
die neuen Lehrpläne und die veränderten Strukturen verführen zu einer
überbordenden Schulhaus-Bautätigkeit durch den Kanton und die Gemeinden, das
Supportangebot für nicht ganz verhaltenskonforme Schüler befeuert eine ständig
wachsende Nachfrage und die Einführung der zusätzlichen Frühsprache und die
Erfindung der neuen Sammelfächer zwingen die Lehrkräfte zu einer teuren
Weiterbildung, die weit über die blosse Anpassung der Schulstruktur zwischen
den Kantonen hinausgeht. Erfahren hat all dies eine breite Öffentlichkeit erst
im Nachhinein. Weder bei der eidgenössischen Abstimmung über den
Bildungsrahmenartikel noch bei den kantonalen Abstimmungen über den Beitritt
zum Harmos-Konkordat oder zum Sonderpädagogik-Konkordat wurden die
Stimmberechtigten über diese Entwicklung aufgeklärt. Der Baselbieter
Bildungsdirektor wähnt sich weiterhin auf dem richtigen Kurs und begegnet dem
wachsenden Widerspruch mit Empörung. Dabei müsste er sich nur bei seiner
besorgten Lehrerschaft umhören.
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