Die Politik möchte die Kompetenzen der Kantone beschneiden, Bild: Wikipedia
Das Parlament will beim Fremdsprachenstreit mitreden, Tages Anzeiger, 30.8. von Anja Burri
Die Volksschule ist
traditionell Sache der Kantone. Bei Bundesrat und Parlament sind die Hemmungen
bisher gross gewesen, diesen in Bildungsfragen dreinzureden. Doch mit dem
Streit über den Fremdsprachenunterricht ändert sich dies. In den vergangenen
drei Wochen haben im Thurgau und in Nidwalden das Parlament respektive die
Regierung verkündet, sie wollten das Frühfranzösisch aus derPrimarschule streichen. Bundesrat Alain
Berset und auch die eidgenössischen Parlamentarier sorgen sich um den
nationalen Zusammenhalt. Die Bildungskommission des Nationalrats (WBK) hat sich
deshalb gestern mit dem Fremdsprachenunterricht beschäftigt.
Bildungspolitiker der SP und der CVP möchten den Fremdsprachenstreit mit einer
Gesetzesänderung lösen. Das Sprachengesetz soll die Kantone künftig dazu
verpflichten, dass der Unterricht in einer zweiten Landessprache spätestens
zwei Jahre vor dem Ende der Primarschule beginnen muss. Es wäre also nicht mehr
erlaubt, das Frühfranzösisch aus der Primarschule zu streichen. Thurgau müsste
zurückkrebsen. Die hängigen Volksinitiativen in Nidwalden und Graubünden oder
die Bemühungen in Luzern und anderen Kantonen würden eingeschränkt: Wenn es nur
noch eine Fremdsprache in der Primarschule gibt, darf das nicht Englisch sein.
Für gewisse Kantone an Sprachgrenzen wie Uri sollten weiterhin Ausnahmen
möglich sein, sagt SP-Nationalrat Jean-François Steiert, Miturheber des
Vorschlags.
Linke
und CVP dafür
Weil der nationale
Zusammenhalt auf dem Spiel stehe, sei das Eingreifen des Parlaments
gerechtfertigt. «Damit die Kinder für die anderen Sprachen und Kulturen
Verständnis entwickeln können, müssen sie früh damit anfangen», sagt er. In
seinen Augen handeln Kantone, die das Lernen einer zweiten Landessprache
hinausschieben, verantwortungslos, «weil sie die Zusammenarbeit der grossen
Mehrheit der Kantone infrage stellen und den Familien mit Kindern das Wechseln
von einem Kanton zum andern unnötig erschweren». Weiter dränge auch der
Bildungsartikel in der Verfassung, den das Stimmvolk 2006 mit grossem Mehr
angenommen habe, zu einem Eingreifen. Auch für CVP-Nationalrätin Kathy Riklin
ist es nach den neusten Entwicklungen im Thurgau und in Nidwalden Zeit, etwas zu
tun. Sie hat den Vorschlag zur Gesetzesänderung zusammen mit Steiert
ausgearbeitet. Einigt sich die WBK darauf, soll daraus eine
Kommissionsinitiative entstehen. Wie Steiert rechnet auch Riklin mit der
Unterstützung ihrer Fraktionskollegen. Die CVP sei in allen Landesteilen stark
verankert. «Es besteht ein starkes Bewusstsein, wie wichtig die anderen
Landessprachen für unser Zusammenleben sind», sagt sie. Ja sagen zu diesem
Vorschlag dürften auch die Grünen. Gegen ein Eingreifen via Bundesgesetz sind
die SVP und die grosse Mehrheit der FDP. Ein Entscheid fällt voraussichtlich im
Oktober. Zuerst wollen die Kommissionsmitglieder die wesentlichen Betroffenen –
zum Beispiel den Präsidenten der Erziehungsdirektorenkonferenz, Christoph
Eymann – anhören. Dieser möchte jedoch die Fremdsprachenfrage unter den
Kantonen ausmachen. Alles andere sei ein Armutszeugnis, sagt er.
Bund
soll auch zahlen
Auch die Grünen wollen
ihren Beitrag zur Lösung des Fremdsprachenstreits leisten. «Es geht um den
nationalen Zusammenhalt. Das soll uns etwas wert sein», sagt Nationalrätin
Aline Trede. Ihr schwebt eine Art Fonds vor, mit dem der Bund den
Frühfranzösisch- oder Frühitalienischunterricht in den Kantonen unterstützen
könnte. Vielerorts scheitere der Fremdsprachenunterricht in der Primarschule am
Spardruck der Kantone, sagt Trede. Da müsse der Bund ansetzen: Mit 50 bis 100
Millionen Franken pro Jahr könnten die Kantone den Fremdsprachenunterricht in
Halbklassen, zusätzliche Lehrkräfte oder Austauschprojekte finanzieren. Auch
über diesen Vorschlag befindet die WBK voraussichtlich im Oktober.
Bereits einig ist sich
die Kommission, dass sie Sprachaufenthalte in den anderen Landesteilen fördern
möchte. Sie verabschiedete gestern einstimmig ein Postulat, das den Bundesrat
beauftragt, zusammen mit den Kantonen ein Konzept für einen systematischen
Sprachaustausch an der Volksschule und auf der Sekundarstufe II innerhalb der
Schweiz auszuarbeiten. Auch soll der Bundesrat aufzeigen, wie das Projekt
finanziert werden könnte.
Austausch
für alle
Der Austausch solle
nicht nur unter den Schülern stattfinden, sondern auch unter den Lehrkräften,
heisst es im Antrag für das Kommissionspostulat, der dem TA vorliegt. Somit
kämen die Klassen aller Landesteile dazu, zeitweise von einer Lehrperson der
jeweils anderen Muttersprache unterrichtet zu werden. Weiter schlagen die
Urheber aus den Reihen von SP und FDP vor, dass Klassen bereits früh
Partnerklassen in anderen Landesteilen haben sollten. Durch Mailkontakte oder
gegenseitige Besuche auf Schulreisen oder in Klassenlagern sei es möglich,
diese Beziehungen zu pflegen. Anders als die Gesetzesänderungen dürfte das
Postulat im Parlament kaum bestritten sein. Auch die Vertreter der SVP, die
sich gegen ein Eingreifen des Bundes in der Fremdsprachenfrage wehrt, stimmten
in der WBK zu.
Obwohl es die
Möglichkeit gibt, führen zurzeit nur wenige Schulen in der Schweiz
Austauschprojekte durch. Gemäss den Zahlen der ch Stiftung profitierten im
Schuljahr 2012/13 rund 580 Klassen oder 11 500 Erst- bis Neuntklässler davon.
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