14. Juli 2014

Können und Wissen im Lehrplan 21

Der Lehrplan 21, der die Bildungsziele der Deutschschweiz vereinheitlichen soll, bringt den kompetenzorientierten Unterricht. Doch was genau sind eigentlich Kompetenzen, und wie verändern sie den Schulalltag?
Auf der Suche nach der Kompetenz, NZZ, 14.7. von Claudia Wirz


Ein Beispiel aus Deutschland: Einem Gymnasiasten steht eine Mathe-Prüfung bevor. Leider macht er lieber Sport. Er hat wegen des Sports auch schon einige Mathe-Klausuren verpasst. Eine unangenehme Situation. Doch das kompetenzorientierte Bildungssystem bietet Hand. Denn es sieht die «Klausurersatzleistung» vor. Statt einer Prüfung kann der Schüler mit zweiwöchigem Vorlauf auch eine Präsentation zu einem mathematischen Thema abliefern, zum Beispiel zum Thema Vektoren. Schüler-Foren im Internet erweisen sich dabei als wahre Ideen-Schatztruhen für die jungen Präsentatoren. Mit der Präsentation löst der Schüler vielleicht keine mathematische Aufgabe, aber er stellt gemäss der Lehre des Kompetenzmodells seine Kompetenz unter Beweis, einen mathematischen Inhalt praktisch anwenden zu können.
Lernen fürs Leben
In Deutschland können Klausuren in einer bestimmten Anzahl durch Referate oder Präsentationen ersetzt werden. Durch dieses «erweiterte Spektrum des Leistungsnachweises» werde «eine grössere Bandbreite der Kompetenzen gefördert», schreibt dazu etwa das Hessische Kultusministerium. Die Förderung hilft offenbar. Die Abiturquote in Deutschland steigt, und auch mit den Notendurchschnitten geht es aufwärts. Ob man das Gleiche über den Bildungsstand sagen kann, ist umstritten (siehe Interview).
Ein anderes Exempel: Auch Latein, jene Restbastion des humanistischen Bildungskanons, kann kompetenzorientiert unterrichtet und getestet werden. Und das geht zum Beispiel so: Eine lateinische Textpassage muss vom Schüler nicht mehr zwingend analysiert, verstanden und trefflich übersetzt werden. Er kann im Test einzelne Vokabeln unterstreichen und aufschreiben, welche Fremdwörter aus ihnen entstanden und in den deutschen Sprachschatz eingegangen sind.
Der kompetenzorientierte Unterricht ist das Kernstück des Lehrplans 21 für die Deutschschweizer Volksschule. Doch was Kompetenzen genau sind, wie sie den Schulalltag verändern und wie sie beurteilt werden, ist selbst in Fachkreisen unklar und umstritten. Gerade zur Frage nach der Form der Beurteilung schweigt der Lehrplan, obwohl er um die 550 Seiten umfasst. In einer ersten Konsultation ist das Papier von vielen Seiten wegen seines Umfangs kritisiert worden. Es muss nun bis Ende Jahr um 20 Prozent abspecken.
Zurzeit listet der Lehrplan über 4000 Kompetenzen auf, die die Schüler können sollen, wenn sie die Volksschule verlassen. Unter diese Kompetenzen fällt zum Thema «Lesen» unter anderen folgende: «Die Schülerinnen und Schüler können ihr Leseverhalten und ihr Leseinteresse reflektieren. Sie können so das Lesen als ästhetisch-literarische Bereicherung erfahren.»
Im Bereich «Natur, Mensch, Gesellschaft» wiederum heisst es: «Die Schülerinnen und Schüler können sich als Teil einer Institution wahrnehmen und den Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, verschiedenen Herrschaftsformen und Entscheidungsprozessen verstehen.» Wo solches selbst gestandene Semester vor Denksportaufgaben stellt, enthält der Lehrplan auch triviale Kompetenzen. Im Bereich der Mathematik etwa heisst es: «Die Schülerinnen und Schüler können mit der Schere Streifen, Ecken und Rundungen schneiden», und sie «können mit dem Geodreieck Winkel messen».
Die Kompetenzorientierung, wie sie der Lehrplan 21 vorsieht, stellt einen Paradigmenwechsel dar. So viel scheint klar. Wie dieser sich aber konkret auswirken wird, ist umstritten. Für den Zürcher Pädagogikprofessor Urs Moser führt kein Weg an der Kompetenz vorbei, «sofern Effektivität, Effizienz und Gerechtigkeit des Schweizer Bildungssystems in Zukunft zuverlässig ausgewiesen und gezielt optimiert werden sollen, sofern faire Beurteilung mehr als eine Floskel im bildungspolitischen Diskurs sein soll, sofern sich Förderkonzepte und Leistungsorientierung in Zukunft tatsächlich einer Wirkungskontrolle stellen wollen». Kompetenzorientierung heisst seiner Meinung nach, dass Wissen in verschiedenen Kontexten angewendet werden soll, was hoffen lasse, «dass der allseits beklagte Anstieg der Vergessenskurve gebremst werden kann». Anders der emeritierte Lehrplanforscher Rudolf Künzli. Er steht Lehrplan und Kompetenzbegriff skeptisch gegenüber. Er bestreitet keineswegs, dass es im Lehrplan auch gute Ansatzpunkte gibt, insgesamt sei dieser aber mit Erwartungen überfrachtet. Der Blick dafür, was ein Lehrplan überhaupt vermag und welchem Zweck er eigentlich dient, ist aus der Sicht von Künzli bei der Erstellung dieses Dokuments verloren gegangen. Entstanden sei eine Art Zwitter, der (zu) vieles wolle, dessen konkrete Funktion deshalb aber im Unklaren bleibe.
Auch mit dem Begriff der Kompetenz geht Künzli ins Gericht. Er hält ihn für einen pädagogischen Slogan ohne inhaltliche Konturen. Das Kompetenzmodell sei sowohl theoretisch als auch praktisch fragil und ungeklärt, sagt der Lehrplanexperte. Der Beweis, dass es sich in der Praxis bewähre, sei nicht erbracht. Kommt dazu, dass in der Welt der Kompetenzen nicht das Wissen, sondern das prüfbare Können regiert, OECD-weit standardisiertes Können notabene, das sich in Vergleichstests wie Pisa messen lässt. Gegen Leistungsmessungen sei nichts einzuwenden, sagt Künzli. Ein Staat habe ein legitimes Interesse daran, zu erfahren, was die Schüler nach der obligatorischen Schulzeit können. Doch wenn der schulische Bildungsauftrag nur noch auf Nützlichkeit, Brauchbarkeit und Prüfbarkeit - also auf Arbeitsmarktfähigkeit - ausgerichtet werde, gehe etwas kaputt.
Prüfen und messen
Diese Einschätzung teilt Roland Reichenbach von der Universität Zürich, der die «grassierende Kompetenzorientierung» Mitte Juni zu einem Tagungsthema machte. Gegen die vergleichende Messung von Leistung hat der Professor für Erziehungswissenschaft nichts einzuwenden, doch er hält es für ein Problem, wenn nur noch das Messbare zählt und alles andere als unnütz gilt. In den USA habe man diesbezüglich schlechte Erfahrungen gemacht.

Dass die Schweiz mit ihrem gut funktionierenden Bildungssystem ohne wirkliche Not auf der Kompetenz-Welle mitreitet, stellt nicht nur Reichenbach, sondern auch eine Gruppe von Pädagogen um den Bieler Realschullehrer und grünliberalen Politiker Alain Pichard fest. Diese sehen im Lehrplan 21 ein «monumentales Regelwerk der Bildungsbürokratie». Mit ihrem von über 1000 Lehrerinnen und Lehrern unterzeichneten Memorandum wollen sie vorab die Lehrerschaft mobilisieren. Denn viele Lehrer würden glauben, dass der Lehrplan 21 sie nicht direkt betreffen werde. Vielleicht ein Irrtum.

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