Auf der Suche nach der Kompetenz, NZZ, 14.7. von Claudia Wirz
Ein Beispiel aus
Deutschland: Einem Gymnasiasten steht eine Mathe-Prüfung bevor. Leider macht er
lieber Sport. Er hat wegen des Sports auch schon einige Mathe-Klausuren
verpasst. Eine unangenehme Situation. Doch das kompetenzorientierte
Bildungssystem bietet Hand. Denn es sieht die «Klausurersatzleistung» vor.
Statt einer Prüfung kann der Schüler mit zweiwöchigem Vorlauf auch eine
Präsentation zu einem mathematischen Thema abliefern, zum Beispiel zum Thema
Vektoren. Schüler-Foren im Internet erweisen sich dabei als wahre
Ideen-Schatztruhen für die jungen Präsentatoren. Mit der Präsentation löst der
Schüler vielleicht keine mathematische Aufgabe, aber er stellt gemäss der Lehre
des Kompetenzmodells seine Kompetenz unter Beweis, einen mathematischen Inhalt
praktisch anwenden zu können.
Lernen fürs Leben
In Deutschland können
Klausuren in einer bestimmten Anzahl durch Referate oder Präsentationen ersetzt
werden. Durch dieses «erweiterte Spektrum des Leistungsnachweises» werde «eine
grössere Bandbreite der Kompetenzen gefördert», schreibt dazu etwa das
Hessische Kultusministerium. Die Förderung hilft offenbar. Die Abiturquote in
Deutschland steigt, und auch mit den Notendurchschnitten geht es aufwärts. Ob
man das Gleiche über den Bildungsstand sagen kann, ist umstritten (siehe
Interview).
Ein anderes Exempel: Auch
Latein, jene Restbastion des humanistischen Bildungskanons, kann
kompetenzorientiert unterrichtet und getestet werden. Und das geht zum Beispiel
so: Eine lateinische Textpassage muss vom Schüler nicht mehr zwingend
analysiert, verstanden und trefflich übersetzt werden. Er kann im Test einzelne
Vokabeln unterstreichen und aufschreiben, welche Fremdwörter aus ihnen
entstanden und in den deutschen Sprachschatz eingegangen sind.
Der kompetenzorientierte
Unterricht ist das Kernstück des Lehrplans 21 für die Deutschschweizer
Volksschule. Doch was Kompetenzen genau sind, wie sie den Schulalltag verändern
und wie sie beurteilt werden, ist selbst in Fachkreisen unklar und umstritten.
Gerade zur Frage nach der Form der Beurteilung schweigt der Lehrplan, obwohl er
um die 550 Seiten umfasst. In einer ersten Konsultation ist das Papier von
vielen Seiten wegen seines Umfangs kritisiert worden. Es muss nun bis Ende Jahr
um 20 Prozent abspecken.
Zurzeit listet der Lehrplan
über 4000 Kompetenzen auf, die die Schüler können sollen, wenn sie die
Volksschule verlassen. Unter diese Kompetenzen fällt zum Thema «Lesen» unter
anderen folgende: «Die Schülerinnen und Schüler können ihr Leseverhalten und
ihr Leseinteresse reflektieren. Sie können so das Lesen als
ästhetisch-literarische Bereicherung erfahren.»
Im Bereich «Natur, Mensch,
Gesellschaft» wiederum heisst es: «Die Schülerinnen und Schüler können sich als
Teil einer Institution wahrnehmen und den Unterschied zwischen Gemeinschaft und
Gesellschaft, verschiedenen Herrschaftsformen und Entscheidungsprozessen
verstehen.» Wo solches selbst gestandene Semester vor Denksportaufgaben stellt,
enthält der Lehrplan auch triviale Kompetenzen. Im Bereich der Mathematik etwa
heisst es: «Die Schülerinnen und Schüler können mit der Schere Streifen, Ecken
und Rundungen schneiden», und sie «können mit dem Geodreieck Winkel messen».
Die Kompetenzorientierung,
wie sie der Lehrplan 21 vorsieht, stellt einen Paradigmenwechsel dar. So viel
scheint klar. Wie dieser sich aber konkret auswirken wird, ist umstritten. Für
den Zürcher Pädagogikprofessor Urs Moser führt kein Weg an der Kompetenz
vorbei, «sofern Effektivität, Effizienz und Gerechtigkeit des Schweizer
Bildungssystems in Zukunft zuverlässig ausgewiesen und gezielt optimiert werden
sollen, sofern faire Beurteilung mehr als eine Floskel im bildungspolitischen
Diskurs sein soll, sofern sich Förderkonzepte und Leistungsorientierung in
Zukunft tatsächlich einer Wirkungskontrolle stellen wollen».
Kompetenzorientierung heisst seiner Meinung nach, dass Wissen in verschiedenen
Kontexten angewendet werden soll, was hoffen lasse, «dass der allseits beklagte
Anstieg der Vergessenskurve gebremst werden kann». Anders der emeritierte
Lehrplanforscher Rudolf Künzli. Er steht Lehrplan und Kompetenzbegriff
skeptisch gegenüber. Er bestreitet keineswegs, dass es im Lehrplan auch gute
Ansatzpunkte gibt, insgesamt sei dieser aber mit Erwartungen überfrachtet. Der
Blick dafür, was ein Lehrplan überhaupt vermag und welchem Zweck er eigentlich
dient, ist aus der Sicht von Künzli bei der Erstellung dieses Dokuments
verloren gegangen. Entstanden sei eine Art Zwitter, der (zu) vieles wolle,
dessen konkrete Funktion deshalb aber im Unklaren bleibe.
Auch mit dem Begriff der
Kompetenz geht Künzli ins Gericht. Er hält ihn für einen pädagogischen Slogan
ohne inhaltliche Konturen. Das Kompetenzmodell sei sowohl theoretisch als auch
praktisch fragil und ungeklärt, sagt der Lehrplanexperte. Der Beweis, dass es
sich in der Praxis bewähre, sei nicht erbracht. Kommt dazu, dass in der Welt
der Kompetenzen nicht das Wissen, sondern das prüfbare Können regiert,
OECD-weit standardisiertes Können notabene, das sich in Vergleichstests wie
Pisa messen lässt. Gegen Leistungsmessungen sei nichts einzuwenden, sagt
Künzli. Ein Staat habe ein legitimes Interesse daran, zu erfahren, was die
Schüler nach der obligatorischen Schulzeit können. Doch wenn der schulische
Bildungsauftrag nur noch auf Nützlichkeit, Brauchbarkeit und Prüfbarkeit - also
auf Arbeitsmarktfähigkeit - ausgerichtet werde, gehe etwas kaputt.
Prüfen und messen
Diese Einschätzung teilt
Roland Reichenbach von der Universität Zürich, der die «grassierende
Kompetenzorientierung» Mitte Juni zu einem Tagungsthema machte. Gegen die
vergleichende Messung von Leistung hat der Professor für Erziehungswissenschaft
nichts einzuwenden, doch er hält es für ein Problem, wenn nur noch das Messbare
zählt und alles andere als unnütz gilt. In den USA habe man diesbezüglich
schlechte Erfahrungen gemacht.
Dass die Schweiz mit ihrem
gut funktionierenden Bildungssystem ohne wirkliche Not auf der Kompetenz-Welle
mitreitet, stellt nicht nur Reichenbach, sondern auch eine Gruppe von Pädagogen
um den Bieler Realschullehrer und grünliberalen Politiker Alain Pichard fest.
Diese sehen im Lehrplan 21 ein «monumentales Regelwerk der Bildungsbürokratie».
Mit ihrem von über 1000 Lehrerinnen und Lehrern unterzeichneten Memorandum
wollen sie vorab die Lehrerschaft mobilisieren. Denn viele Lehrer würden
glauben, dass der Lehrplan 21 sie nicht direkt betreffen werde. Vielleicht ein
Irrtum.
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