Chassot: "Ich habe noch keinen erwachsenen Deutschschweizer getroffen, der die Standardsprache nicht beherrscht". Bild: Keystone
"Das Beispiel Belgien zeigt uns, was passieren kann", Berner Zeitung, 13.7. von Christoph Aebischer
Weil einige Kantone Französisch an der Primarschule infrage
stellen, rief eine Zeitung den Sprachenkrieg aus. Isabelle Chassot, sind
Romands dünnhäutig?Isabelle Chassot: Die Romands reagieren
nicht, weil sie dünnhäutig sind, sondern weil sie damit ihre Sorge um den Platz
einer Minderheit in der Schweiz ausdrücken und an die Bedeutung des nationalen
Zusammenhalts erinnern. Das Wort Krieg fand ich selber zu stark. Man hat es
hier wohl gewählt, um ein berechtigtes Anliegen vorzubringen.
Prominente wie Pascal Couchepin oder
Christophe Darbellay bliesen ins selbe Horn. Was wollen sie damit bezwecken? Das müssen Sie sie selber fragen. In der Romandie aber existiert
ein grosses Einvernehmen, dass die Landessprachen für das gegenseitige
Verständnis in der Schweiz wichtig ist. Der Bundesrat hat es übrigens auch in
parlamentarischen Antworten unterstrichen: Für den nationalen Zusammenhalt ist
es wichtig, dass die Landessprachen präsent bleiben, gesprochen und an den
Schulen vermittelt werden. Denn es geht auch darum, einander zu verstehen.
Ihr Nachfolger als Präsident der
kantonalen Erziehungsdirektoren, Christoph Eymann, hat sogar Belgien als
Szenario bemüht, wo die Sprachregionen sich auseinandergelebt haben. Droht dies
der Schweiz? Die Schweiz ist
vielschichtiger, und das ist auch ihre Chance. Belgien ist unterteilt in eine
Mehrheit und eine Minderheit. In der Schweiz gibt es verschiedene Minderheiten;
neben den Sprachregionen schaffen etwa Religionen oder die Differenz zwischen
Stadt und Land solche Gruppen. Man befindet sich immer in der Minderheit zu
jemand anderem. Die Situation ist also nicht direkt vergleichbar, aber das
Beispiel Belgien zeigt uns, was geschieht, wenn eine Sprache nicht mehr
wahrgenommen wird.
Bundesrat Alain Berset will das nicht
hinnehmen. Bedeutet das, er wird die zweite Landessprache an der Primarschule
verordnen? Es ist nicht nur Alain
Berset, der sich geäussert hat, sondern der Gesamtbundesrat, der auf die in der
Verfassung verankerten Grundsätze aufmerksam gemacht hat. Er rief seine Aufgabe
in Erinnerung, nötigenfalls korrigierend aktiv zu werden. Das wäre zum Beispiel
dann der Fall, wenn der Unterricht einer zweiten Landessprache an der
Primarschule in einzelnen Kantonen gestrichen würde.
Ein solches Machtwort würde dem
nationalen Zusammenhalt doch auch Schaden zufügen? Nein. Es ginge ja nicht um ein Machtwort, sondern um einen
verfassungsmässigen Auftrag. Ich bin überzeugt, dass dies den Zusammenhalt
stärken würde. Bis jetzt hat jedoch noch keine Kantonsregierung die
Sprachenstrategie infrage gestellt. Es herrscht Konsens darüber, dass der
Fremdsprachenunterricht früh beginnen muss und dass dies auch für eine zweite
Landessprache zutrifft. Anderslautende Anliegen kamen bisher stets aus den
Parlamenten oder in Form von Volksinitiativen.
Der Kompromiss von 2004, den Sie
ansprechen, war eine Zangengeburt. Im Osten der Schweiz beharrte vor allem
Zürich auf Englisch als erster Fremdsprache. Die Romandie bot nur Hand, wenn
der Französischunterricht ebenfalls in der Primarschule einsetzt. Sie waren
damals beteiligt. Erinnern Sie sich? Das war tatsächlich eine schwierige Zeit. Ich war damals
Erziehungsdirektorin des Kantons Freiburg. Der Kanton Zürich spielte übrigens
auf der Suche nach einer Lösung eine sehr konstruktive Rolle. Dies, indem man
es als Chance auffasste – und zwar auch für die Schüler –, in der Primarschule
mit zwei Fremdsprachen zu beginnen.
Kritiker des Kompromisses bezweifeln
genau dies. Sie sagen, die Schüler seien überfordert. Interessiert Sie das nicht? Bevor der Entscheid fiel, waren alle Facetten einbezogen worden.
Die pädagogische Sicht floss demnach mit ein. Es gibt Länder, die viel früher
mit dem Sprachunterricht beginnen, zum Beispiel Luxemburg. Ich komme aus einem
zweisprachigen Kanton, in dem ebenfalls zwei Fremdsprachen eingeführt werden.
Ich sah dort Kinder, die mit Freude lernen. Wir müssen aufpassen, dass wir als
Erwachsene nicht auf die jetzige Schule projizieren, wie wir selber
Fremdsprachen gelernt haben. Die heutigen Unterrichtsmittel sind spannender
aufgebaut und die Didaktik ans Alter der Kinder angepasst.
Die Einwände stammen von Lehrern. Liegen
sie alle falsch? Mich würde
interessieren, was für eine Lösung diese Lehrer als Alternative sehen. Ich
frage mich, ob vielleicht eher sie mit dem Vermitteln der Fremdsprache ein
Problem haben.
Wegen mangelnder Kenntnisse? Nein, ich unterschätze die Aufgabe der Lehrpersonen nicht. Ich
frage mich, ob sie zu dieser Ansicht kommen, weil sie zu wenig Unterstützung
erfahren. Erfolgreicher Sprachunterricht hängt auch von einem ausreichenden
Weiterbildungsangebot ab.
Zurück zu den Schülern: Die Schule soll
Kinder dazu befähigen, als Erwachsene zu bestehen. Darf man sie missbrauchen,
indem man ihnen nationalen Zusammenhalt einpaukt? Ihre Frage erstaunt mich. Das Vermitteln einer Landessprache ist
in keiner Weise ein Missbrauch. Kinder erhalten so mehr Chancen auf dem
Arbeitsmarkt. 95 Prozent der Angestellten in der Schweiz arbeiten für KMUs,
viele davon in der Binnenwirtschaft. Dort sind solche Kenntnisse nach wie vor
von Nutzen.
Wäre der Bund nicht besser beraten, den
Austausch zu fördern, statt den Drohfinger zu erheben? Auch die Unterstützung des Schüleraustausches gehört zu den
Aufgaben des Bundes.
Mit welchem Betrag? Aktuell mit einer Million Franken pro Jahr, und es ist in der
Kulturbotschaft vorgesehen, diese Summe zu erhöhen. Jeder Austausch bietet die
Gelegenheit, sich kennen zu lernen, die Umwelt des Anderssprachigen zu
verstehen, und die Chance, mit einer anderen Landessprache in Kontakt zu
kommen. Deshalb sehen wir auch vor, Sprachaufenthalte für Lehrer zu
unterstützen.
Mit Verlaub, der Betrag ist ein Klacks!
Warum?
Warum?
Schon nur eine Jahreslektion Unterricht
kostet einen Kanton mehrere Millionen Franken. Sie müssen zwischen dem Unterricht, für
den die Kantone zuständig sind, und der Unterstützung der Organisation des
Austausches unterscheiden. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, müssen Sie
die Mittel hinzufügen, welche die Kantone für den Unterricht im interkantonalen
Austausch aufwenden. Deshalb unterstützt der Bund auch die Organisation des
Austausches, der notabene vor Inkraftsetzung des Sprachengesetzes nicht
genügend finanziert war.
Sollten solche Austausche eventuell
obligatorisch werden? Es ist nicht an mir,
das zu fordern. Dies fällt in den Zuständigkeitsbereich der Kantone. Aber ich
sehe die Herausforderung.
Derzeit sind drei Volksinitiativen
unterwegs, die nur noch eine Fremdsprache an der Primarschule wollen. Ist das
Harmos-Konkordat gescheitert, wenn eine davon angenommen wird? Als Direktorin des Bundesamts für Kultur ist es nicht an mir,
diese Frage zu beantworten. Dazu nur so viel: Artikel 62 Absatz 4 der
Bundesverfassung verpflichtet die Kantone zur Harmonisierung der Volksschule.
Dieses Ziel können sie mittels Konkordat oder durch autonome Entscheidungen
erreichen.
In der Verfassung steht nirgends
geschrieben, dass bereits in der Primarschule mit zwei Fremdsprachen begonnen
werden muss. Der Unterricht in der zweiten Landessprache könnte also auf der
Oberstufe einsetzen. Nein. Der erwähnte
Artikel verbindet die Harmonisierung mit dem Ziel, die Mobilität zu
erleichtern. Er verlangt deshalb, dass am Übergang zur nächsten Stufe – also von
der Primarschule in die Oberstufe oder von dort in weiterführende Ausbildungen
– gewisse Lernziele erreicht sein müssen. Vier Bereiche – Muttersprache,
Mathematik, Wissenschaften und Fremdsprachen – sind bereits von allen Kantonen
verabschiedet worden.
Mobilität ohne schulische Hürden ist in
der heutigen Situation, in der nicht alle Kantone mit derselben Fremdsprache
beginnen, sowieso eine Utopie.Eben nicht. Wie schon gesagt, die Konferenz der
Erziehungsdirektoren hat Bildungsstandards mittels Lernzielen definiert, die
jeweils zum Ende einer Periode erreicht sein müssen. Sie sind entscheidend für
die Mobilität der Familien.
Wie haben Sie als Erziehungsdirektorin
eines zweisprachigen Kantons die deutschsprachige Minderheit erlebt? Die deutschsprachige Minderheit im Kanton Freiburg ist wie die
französischsprachige Minderheit in der Schweiz. Wir begegneten uns mit Respekt.
Aus dem Wallis, ebenfalls einem Kanton
mit frankophoner Mehrheit, hört man was anderes. Da lebt man aneinander
vorbei... Zwischen dem Wallis
und Freiburg gibt es Unterschiede. Wir haben mit der Stadt Freiburg eine
Hauptstadt, die zweisprachig ist und ein gemeinsames Zentrum darstellt. Für die
Ausbildung nach der obligatorischen Schule kommen die meisten deutschsprachigen
Schüler nach Freiburg. Alle Mittelschulen sind bilingue, auch die
Berufsschulen. Die Schulen unternehmen viel, um das Miteinander zu fördern.
Romands verlangen, dass Deutschschweizer
Französisch sprechen können. Sie selber reden aber lieber in Ihrer
Muttersprache. Woran liegt das? Sind es Minderwertigkeitskomplexe? (spricht plötzlich Deutsch) Da muss ich korrigieren: Romands
erwarten, dass sie ihre eigene Sprache sprechen können und trotzdem verstanden
werden. Sie wollen als vollwertige, Französisch sprechende Schweizer wahrgenommen
werden und verlangen nicht, dass man mit ihnen Französisch spricht. Dafür gibt
es die gutschweizerische Übereinkunft, dass in mehrsprachigen Runden jeder
seine eigene Sprache spricht. Natürlich müssen Deutschschweizer dann die
Standardsprache reden.
Damit kommen wir zu einem weiteren
Problem: Hier liege vieles im Argen, sagen Kritiker. Statt vieler Fremdsprachen
würden die Schüler gescheiter wieder richtig Hochdeutsch lernen. Ich habe noch keinen erwachsenen Deutschschweizer getroffen, der
die Standardsprache nicht beherrscht und sich im Gespräch mit Romands oder
Italienischsprachigen geweigert hätte, diese zu sprechen.
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