16. Juli 2014

Kompetenzorientierung führt zu Beurteilungsdilemma

Noch ist der Lehrplan 21 nicht eingeführt, genauer - er ist noch nicht einmal bekannt. Dennoch zeigen sich bereits jetzt weitere Schlaglöcher auf dem Weg seiner Einführung. Ein bisher vernachlässigtes Thema ist dabei die Beurteilung. Wie soll man Kompetenzen gerecht beurteilen und sie als Selektionsmittel für den Übertritt in die Sekundarstufe I verwenden? Dies zeigt sich exemplarisch am Lehrmittel 'Mille feuilles', wo die Beurteilung nach Kompetenzen erprobt wird. Eltern und Lehrer sorgen sich um die Aussagekraft dieser Beurteilungen. (uk)




"Eine Selektion ist nie nur förderorientiert", Bild: Manu Friederich

Französisch zeigt, wie schwierig die Beurteilung mit dem Lehrplan 21 wird, Bund, 16.7. von Mireille Guggenbühler


Der Sekübertritt ihrer Kinder in ­einem Jahr bereitet Elternvertretern aus Bremgarten schon heute Sorgen. In einem Brief haben sie sich deshalb an den «Bund» gewandt. Darin zeigen sie sich in Bezug auf die im kommenden Schuljahr anstehenden Selektionsentscheide im Fach Französisch verunsichert. Denn: Die künftigen Sechstklässler werden die ersten Schüler sein, welche Französisch nach dem Passepartout-Lehrplan und dem neuen Lehrmittel «Milles Feuilles» lernen. Doch die Vorgaben in diesem Lehrplan und die Selektion passen irgendwie nicht zusammen, finden Eltern. Und auch Lehrer.
Die Beurteilung wird anders
Doch der Reihe nach: Im Gegensatz zu ihren Eltern, die in den 1970er- und 1980er-Jahren zur Schule gegangen sind, lernen heutige ­Französischschüler nicht nach einer strikt vorgegebenen Grammatikprogression und einem damit verbundenen Wortschatz, sondern vor allem durch Handeln und ­Sprechen in verschiedenen Situationen. Der Passe­partout-Lehrplan hält denn auch fest, dass die Schüler die Fähigkeit ­erwerben sollen, die Fremdsprachen ­selbstständig zu gebrauchen, Lernstrategien anzuwenden sowie Sprache und Kultur bewusst wahrzunehmen.
Im bisherigen Französischunterricht stand die Zielorientierung im Zentrum der Beurteilung. Neu ist mit dem Passe­partout-Lehrplan die Kompetenzorientierung hinzugekommen. Das heisst, künftig werden Lehrkräfte nicht nur die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler beurteilen müssen, sondern auch die Lernprozesse der Kinder. Wörtlitests, Diktate, Grammatik­tests oder eine Beurteilung in Bezug auf das Klassenniveau im Französisch­unterricht – diese Zeiten sind vorbei. Im Vordergrund steht der Weg, den ein Kind macht, um ein Lernziel zu erreichen und nicht unbedingt nur das Ziel ­selber. Beurteilt werden also die Lernfortschritte jedes einzelnen Kindes. Bei dieser Beurteilungsform stehen somit die Stärken und nicht die Schwächen des Kindes im Vordergrund. Dies setzt bei den Lehrpersonen ein sehr genaues Beobachten der Schüler voraus.
Im Prinzip nimmt der Passepartout-­Lehrplan also vorneweg, was ohnehin auf die Schulen zukommen wird: Mit der Inkraftsetzung des Lehrplans 21 wird nämlich diese kompetenzorientierte Beurteilung in allen Fächern zum Thema. Doch genau hier liegt der Knackpunkt. Die «freiere Form des Lernens» im neuen Französisch­unterricht und die damit einhergehende Beurteilung steht für die Französischlehrkräfte der Oberstufenschule Bremgarten im Widerspruch zum nun anstehenden Selektionsentscheid für die Sek. Ihre Bedenken haben die Lehrkräfte in einem Brief an die Eltern der Oberstufenschüler denn auch festgehalten. Oder wie es Schulleiterin Silvia Wyss ausdrückt: «Eine Selektion ist nie nur förderorientiert. Sie passt deshalb nicht zum kompetenzorientierten Unterricht. Persönlich wären wir noch so froh, wir könnten nur förderorientiert beurteilen. Indes müssen wir Noten vergeben und den Eltern gegenüber auch begründen.»
Kinder sollen ins Gymnasium
Die Hälfte aller Oberstufenschüler in Bremgarten besucht nach der Sek das Gymnasium. «Unsere Eltern sind bildungsnah und wollen möglichst viele Kinder nach der obligatorischen Schulzeit in weiterführende Schulen ­schicken», sagt Wyss.
Grundsätzlich wünschten sich ihre Lehrkräfte deshalb nun eine Selektionshilfe vom Kanton im Fach Französisch.
Für Margreth Däscher von der Erziehungsdirektion (ERZ), die bei Passepartout mitgearbeitet hat, kommt die Kritik nicht überraschend: «Viele Lehrpersonen sind verunsichert, weil beim kompetenzorientierten Beurteilen die Förderorientierung höher gewichtet wird als die Beurteilung von grossen oder kleinen Tests.» Fakt ist allerdings laut Däscher, dass die Direktionsverordnung über die Beurteilung schon heute und nicht erst mit der Einführung von kompetenzorientiertem Unterricht, die förderorientierte Beurteilung vorsieht. «Der Entscheid für die Selektion wird aus meiner Sicht nicht plötzlich schwieriger, denn schon heute sollte er nicht nur auf der reinen Notengebung basieren», sagt Däscher.
Allerdings sei diese Beurteilungsform im Französischunterricht tatsächlich schwierig, räumt Däscher ein. Deshalb hat die ERZ im Internet Vorlagen zum Beobachten und zur Beurteilung aufgeschaltet. Schulleiterin Wyss ist sich bewusst, dass eigentlich schon heute nicht nur die Beurteilung nach Noten im Vordergrund stehen sollte, sondern auch der Lernprozess des Kindes. Aber: «Am Ende zählen eben doch vor allem die Noten. Wenn wir einen Schüler mit einer Vier, der aber grosse Lernfortschritte gemacht hat in die Sek schicken wollen und einen mit einer Fünf, der kaum Fortschritte gemacht hat, nicht für die Sek vorschlagen, dann wird es schwierig, dies den Eltern gegenüber zu begründen.»


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