27. Juli 2014

"Es droht ein Controlling im Sinne der Wirtschaft"

Der Lehrer Andreas Aebi gehört zu den ersten Kritikern des Lehrplans 21. Nun hilft er seinem Bildungsdirektor Bernhard Pulver, das Werk umzusetzen. Aebi erklärt, was man verbessern müsste.
"Es droht ein Controlling im Sinne der Wirtschaft", Tages Anzeiger, 26.7. Interview von Anja Burri mit Andreas Aebi



Sie sind selber Lehrer. Wo muss der Lehrplan 21 am dringendsten verbessert werden?
Der Lehrplan 21 beinhaltet erstens einen fatalen Paradigmenwechsel und zweitens die Vergleichstest-Falle.
Bitte erklären Sie das.
Bis weit in die 80er-Jahre vermittelten die Schweizer Schulen in erster Linie Bildungsinhalte, also Kenntnisse oder Wissen. Seit den 90er-Jahren stellt man den Anspruch an die Schüler, neben den blossen Kenntnissen auch Fähigkeiten zu entwickeln. Wenn sich nun diese Fähigkeiten oder Kompetenzen und die Wissensinhalte ergänzen, ist das gut. Der Lehrplan 21 aber führt die Vorherrschaft der Kompetenzen über die Bildungsinhalte, das Wissen, ein.
Warum ist das zwingend schlecht?
Ich sehe die Gefahr, dass unsere Schüler im Cyberspace des Wissens zwar mit Leichtigkeit herumsurfen – aber dass sie von diesem Wissen nichts mehr abspeichern. Natürlich ist es sinnvoll, wenn meine Schüler im Internet oder mit dem Atlas herausfinden können, dass Zollbrück näher bei Langnau liegt als Wladiwostok. Noch lieber aber hätte ich, wenn sie das einfach wüssten. Ich finde, Kompetenzen allein machen das Leben nicht aus – unser Leben du
̈rstet nach Inhalten.
Ich bin auch schlecht in Geografie und finde mich im Alltag trotzdem zurecht.
Dann gebe ich Ihnen noch ein Beispiel aus der Geschichte: Ein Schüler kann an beliebig vielen Beispielen aus der Weltgeschichte lernen, zu verstehen, wie eine Diktatur funktioniert. Das ist eine Kompetenz. Wenn er aber die deutsche Nazidiktatur und deren verheerenden Einfluss auf die Weltgeschichte verstehen will, muss er genau diesen Nationalsozialismus kennen. Dazu muss der Schüler Wissen pauken: Hitlers Rassenwahn, seinen Macht- und Propaganda­apparat, sein Wirtschaftsförderprogramm und so weiter. Was ich damit sagen will: Kompetenzen allein sind beliebig. Wer wirklich Zusammenhänge verstehen will, benötigt einen Rucksack an Wissen. Der Lehrplan vernachlässigt das Wissen.
Viele Kritiker behaupten, dass diese Entwicklung vor allem die sozial schwachen Schüler noch weiter benachteilige. Warum ist das so?
Das hat auch mit den neuen kompetenz- orientierten Lehrmitteln zu tun. Sie versetzen den Lehrer in eine Statistenrolle: Wir beobachten mit dem Fernglas den Lernprozess der Kinder und schreiben am Schluss eine Internetadresse an die Wandtafel, wo die Kinder ihre Kompetenzen testen können. Für Kinder, die von zu Hause nicht viel mitkriegen, ist das fatal. Sie sind häufig überfordert.
Was meinten Sie vorhin mit der «Vergleichstest-Falle»?
Die Wirtschaft brennt geradezu darauf, dass auch in den Schweizer Schulen – wie im übrigen OECD-Bildungsraum – endlich flächendeckende Leistungstests durchgeführt werden. Man verspricht sich davon eine Angleichung und Messbarkeit der Bildung. Obwohl das Flaggschiff der OECD, der Pisa-Test, bereits bedenkliche Kratzer punkto Glaubwürdigkeit abgekriegt hat, arbeiten unsere Lehrplanmacher genau in diese Richtung. Man will in allen Kantonen überprüfen, ob die Schüler die Kompetenzziele erreicht haben. Das tönt zwar unverdächtig, ist aber ein Controlling im Sinne der Wirtschaft: Wie viel Output erzielt Lehrer X mit der Klasse 1A im internen Schulvergleich? Wie viel Output erzielt Schule A im Vergleich mit allen Schulen im Kanton? Und so weiter.
Die Erziehungsdirektoren haben versprochen, es werde keine Rankings geben. Ein bisschen Konkurrenz würde der Volksschule aber bestimmt nicht schaden.
Diese Vergleicherei richtet grossen Schaden an. Das wurde in anderen OECD-Ländern bereits erforscht. Der Lehrplan wird auf seinen ökonomischen Nutzen reduziert, es findet ein «Teaching-to-the-Test» statt und – es wird auch getrickst.
Sie malen schwarz.
Nein, ich spreche aus Erfahrung. Unsere Schule nimmt seit ein paar Jahren an einem Vergleichstest namens Levos teil. In dieser kurzen Zeitspanne habe ich beobachtet, wie wir Lehrkräfte auf den Druck reagieren, gut an diesem Test abzuschneiden: Wir setzen immer mehr Zeit für Übungsaufgaben ein. Wir schieben die Durchführung der Tests auf den spätestmöglichen Zeitpunkt hinaus. Und wir stellen unseren Schülern für die Lösung der Aufgaben unbeschränkte Zeitgefässe zur Verfügung. Das ist Zeitverschwendung.

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