Eine kluge Antwort auf Vielfalt fällt weg, NZZ, 23.6. von Walter Bernet
Seit einem Jahr läuft im Kanton Zürich der
Schulversuch «Fokus starke Lernbeziehungen». Die Beschränkung auf zwei
Lehrpersonen pro Klasse soll mehr Ruhe und Konzentration in die Schule bringen
und eine individuellere Förderung erlauben. Kennen wir das nicht schon? Ja und
Nein. Ja, auch die Grund- oder Basisstufe sah vor, dass zwei Lehrpersonen eine
Klasse gemeinsam betreuen, um auf die in der Anfangsphase der Schulzeit
besonders grossen Entwicklungsunterschiede der Kinder besser eingehen zu
können. Und Nein, die beiden Grundstufen-Lehrerinnen, eine Kindergärtnerin und
eine Primarlehrerin, wären nicht weitgehend allein im Klassenzimmer gewesen,
sondern hätten die Unterstützung einer schulischen Heilpädagogin genossen.
Grosses Engagement
Die Grundstufe war eben nicht einfach ein
Korrektiv gegen eine ungute Entwicklung - jener zu immer mehr Fachleuten im
Klassenzimmer - wie der neue Schulversuch. Sie stellte eine umfassende
pädagogische Antwort auf die zum Problem gewordene Heterogenität der
Schülerschaft dar. Nicht mehr das Alter der Kinder sollte bestimmen, wann sie neben
dem Spielen mit dem Lernen beginnen. Der Übergang sollte fliessend möglich
sein, abhängig von Reife und Bereitschaft des einzelnen Kindes.
Grundstufenklassen waren als
Mehrjahrgangsklassen für Kinder von 4 bis 7 oder 8 Jahren konzipiert, denen
auch der Stoff der ersten Primarklasse vermittelt werden sollte. So wollte man
ein breites Spektrum von sozialem Lernen ermöglichen - nach dem Motto «Kinder
lernen von Kindern». Je nach individueller Entwicklung wären die Kinder nach 2,
3 oder 4 Jahren in die Primarstufe übergetreten. Erhofftes Ziel war es, den
Kindern einen besseren Start in die spätere Schulkarriere zu ermöglichen und
damit die «Risikogruppe» von Schülern, die die Lernziele nie erreichen, zu
verkleinern.
Die Grundstufe war all jenen ein Dorn im Auge,
die eine «Verschulung» des Kindergartens befürchteten. Als Bestandteil des
Volksschulgesetzes, das Ernst Buschor als Erziehungsdirektor am Ende seiner
Amtszeit an die Urne brachte, war sie wesentlich verantwortlich für seine
Ablehnung. Damals konnte man in Zürich nur an der Gesamtschule Unterstrass eins
zu eins miterleben, wie die Grundstufe funktioniert. Viele, die Gelegenheit
dazu hatten, waren restlos begeistert.
Das 2005 doch noch angenommene
Volksschulgesetz war nicht viel anderes als die Vorlage Buschors ohne
Grundstufe. Über diese sollte später separat befunden werden - nach einem 2004
gemeinsam mit vielen andern Ostschweizer Kantonen gestarteten Versuch. 27
Versuchsgemeinden mit 89 Grundstufenklassen und 210 Lehrpersonen nahmen im
Kanton Zürich daran teil. Keine Gemeinde ist ausgestiegen. Wer sich beteiligte,
tat dies mit enormem Engagement und tiefer Überzeugung.
Entsprechend gross war die Enttäuschung, als
im November 2012 sowohl die flächendeckende Einführung der Grundstufe
(Prima-Initiative) als auch die fakultative Einführung (Gegenvorschlag) von 71
beziehungsweise 54 Prozent der Stimmenden abgelehnt wurde. Mit dem Beginn der
Sommerferien geht die Ära der Grundstufe im Kanton Zürich nun endgültig zu
Ende. Ein Drittel der Versuchsgemeinden hörte schon vor einem Jahr auf, die
übrigen tun es jetzt, zum letztmöglichen Zeitpunkt.
Ausser im Aargau bleibt die Einführung der
Grund- oder Basisstufe in den meisten andern Deutschschweizer Kantonen in
unterschiedlichen Ausprägungen weiterhin möglich. Am meisten Bewegung ist in
den Kantonen Luzern und Bern zu erkennen. In Luzern gibt es zurzeit in 25 der
83 Gemeinden insgesamt 52 Basisstufenklassen, in Bern nimmt die Zahl der
Gemeinden mit einer Basisstufenklasse zu. Nach den Sommerferien gehören 37
Gemeinden dazu, also rund jede zehnte Berner Gemeinde. Das Berner
Stadtparlament fordert Basisstufen in der ganzen Stadt.
Viel neues Know-how
Welches Fazit ist zu ziehen? In der
Gesamtschule Unterstrass, die mit einigen andern Privatschulen an der
Grundstufe festhält, fand letzte Woche eine Abschlussfeier des Volksschulamts
unter dem Motto «Der Versuch war es wert!» statt. Die zehn Jahre Grundstufe
hätten die Zürcher Schulen nachhaltig beeinflusst, sagte die Bildungsdirektorin
Regine Aeppli zu den Beteiligten: «Vieles, was heute in der Eingangsstufe als
selbstverständlich gilt, hat seinen Ursprung in der Grundstufe.» Sie erinnerte
an die Aufhebung des Lese- und Schreibverbots im Kindergarten, an die stärkere
Berücksichtigung der individuellen Entwicklung der Kinder, an die
Kompetenzorientierung des Unterrichts, die im Lehrplan 21 zur Grundlage für die
ganze Schulzeit wird.
Einen Dämpfer hatte die Grundstufe 2010
hinzunehmen, als die Evaluationsergebnisse präsentiert wurden. Danach erreichte
sie ihre Ziele zwar gut, jedoch mit zwei Aber. Das erste betraf den
Kindergarten. Dieser - als überholt kritisiert - hatte sich in der Zwischenzeit
auch dank der Grundstufe enorm entwickelt und erzielte in der Evaluation
ähnlich gute Leistungswerte günstiger. Das zweite betraf die «Risikokinder».
Herkunftsbedingte Unterschiede konnte auch die Grundstufe nicht verringern.
Zu wenig gewürdigt wurden wohl die weniger
gut messbaren Wirkungen der Grundstufe auf die Sozial- und Selbstkompetenz der
Kinder, wie der Pädagoge Kurt Reusser an der Feier festhielt. Zu diesen gehört
auch der Einfluss auf die Unterrichtsentwicklung über die Eingangsstufe hinaus,
namentlich was die enge Zusammenarbeit in multiprofessionellen Lehrerteams und
das altersdurchmischte Lernen betrifft.
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