24. Juni 2014

Zürich beendet das Experiment Grundstufe

Im Kanton Zürich endet das Experiment Grundstufe mit dem Sommerferienbeginn. Die Zürcher Bildungsdirektorin Aeppli bedauert dies: "Vieles, was heute in der Eingangsstufe als selbstverständlich gilt, hat seinen Ursprung in der Grundstufe". Auch der Autor des Textes, Walter Bernet, kann seine Enttäuschung kaum verbergen.
Eine kluge Antwort auf Vielfalt fällt weg, NZZ, 23.6. von Walter Bernet


Seit einem Jahr läuft im Kanton Zürich der Schulversuch «Fokus starke Lernbeziehungen». Die Beschränkung auf zwei Lehrpersonen pro Klasse soll mehr Ruhe und Konzentration in die Schule bringen und eine individuellere Förderung erlauben. Kennen wir das nicht schon? Ja und Nein. Ja, auch die Grund- oder Basisstufe sah vor, dass zwei Lehrpersonen eine Klasse gemeinsam betreuen, um auf die in der Anfangsphase der Schulzeit besonders grossen Entwicklungsunterschiede der Kinder besser eingehen zu können. Und Nein, die beiden Grundstufen-Lehrerinnen, eine Kindergärtnerin und eine Primarlehrerin, wären nicht weitgehend allein im Klassenzimmer gewesen, sondern hätten die Unterstützung einer schulischen Heilpädagogin genossen.
Grosses Engagement
Die Grundstufe war eben nicht einfach ein Korrektiv gegen eine ungute Entwicklung - jener zu immer mehr Fachleuten im Klassenzimmer - wie der neue Schulversuch. Sie stellte eine umfassende pädagogische Antwort auf die zum Problem gewordene Heterogenität der Schülerschaft dar. Nicht mehr das Alter der Kinder sollte bestimmen, wann sie neben dem Spielen mit dem Lernen beginnen. Der Übergang sollte fliessend möglich sein, abhängig von Reife und Bereitschaft des einzelnen Kindes.
Grundstufenklassen waren als Mehrjahrgangsklassen für Kinder von 4 bis 7 oder 8 Jahren konzipiert, denen auch der Stoff der ersten Primarklasse vermittelt werden sollte. So wollte man ein breites Spektrum von sozialem Lernen ermöglichen - nach dem Motto «Kinder lernen von Kindern». Je nach individueller Entwicklung wären die Kinder nach 2, 3 oder 4 Jahren in die Primarstufe übergetreten. Erhofftes Ziel war es, den Kindern einen besseren Start in die spätere Schulkarriere zu ermöglichen und damit die «Risikogruppe» von Schülern, die die Lernziele nie erreichen, zu verkleinern.
Die Grundstufe war all jenen ein Dorn im Auge, die eine «Verschulung» des Kindergartens befürchteten. Als Bestandteil des Volksschulgesetzes, das Ernst Buschor als Erziehungsdirektor am Ende seiner Amtszeit an die Urne brachte, war sie wesentlich verantwortlich für seine Ablehnung. Damals konnte man in Zürich nur an der Gesamtschule Unterstrass eins zu eins miterleben, wie die Grundstufe funktioniert. Viele, die Gelegenheit dazu hatten, waren restlos begeistert.
Das 2005 doch noch angenommene Volksschulgesetz war nicht viel anderes als die Vorlage Buschors ohne Grundstufe. Über diese sollte später separat befunden werden - nach einem 2004 gemeinsam mit vielen andern Ostschweizer Kantonen gestarteten Versuch. 27 Versuchsgemeinden mit 89 Grundstufenklassen und 210 Lehrpersonen nahmen im Kanton Zürich daran teil. Keine Gemeinde ist ausgestiegen. Wer sich beteiligte, tat dies mit enormem Engagement und tiefer Überzeugung.
Entsprechend gross war die Enttäuschung, als im November 2012 sowohl die flächendeckende Einführung der Grundstufe (Prima-Initiative) als auch die fakultative Einführung (Gegenvorschlag) von 71 beziehungsweise 54 Prozent der Stimmenden abgelehnt wurde. Mit dem Beginn der Sommerferien geht die Ära der Grundstufe im Kanton Zürich nun endgültig zu Ende. Ein Drittel der Versuchsgemeinden hörte schon vor einem Jahr auf, die übrigen tun es jetzt, zum letztmöglichen Zeitpunkt.
Ausser im Aargau bleibt die Einführung der Grund- oder Basisstufe in den meisten andern Deutschschweizer Kantonen in unterschiedlichen Ausprägungen weiterhin möglich. Am meisten Bewegung ist in den Kantonen Luzern und Bern zu erkennen. In Luzern gibt es zurzeit in 25 der 83 Gemeinden insgesamt 52 Basisstufenklassen, in Bern nimmt die Zahl der Gemeinden mit einer Basisstufenklasse zu. Nach den Sommerferien gehören 37 Gemeinden dazu, also rund jede zehnte Berner Gemeinde. Das Berner Stadtparlament fordert Basisstufen in der ganzen Stadt.
Viel neues Know-how
Welches Fazit ist zu ziehen? In der Gesamtschule Unterstrass, die mit einigen andern Privatschulen an der Grundstufe festhält, fand letzte Woche eine Abschlussfeier des Volksschulamts unter dem Motto «Der Versuch war es wert!» statt. Die zehn Jahre Grundstufe hätten die Zürcher Schulen nachhaltig beeinflusst, sagte die Bildungsdirektorin Regine Aeppli zu den Beteiligten: «Vieles, was heute in der Eingangsstufe als selbstverständlich gilt, hat seinen Ursprung in der Grundstufe.» Sie erinnerte an die Aufhebung des Lese- und Schreibverbots im Kindergarten, an die stärkere Berücksichtigung der individuellen Entwicklung der Kinder, an die Kompetenzorientierung des Unterrichts, die im Lehrplan 21 zur Grundlage für die ganze Schulzeit wird.
Einen Dämpfer hatte die Grundstufe 2010 hinzunehmen, als die Evaluationsergebnisse präsentiert wurden. Danach erreichte sie ihre Ziele zwar gut, jedoch mit zwei Aber. Das erste betraf den Kindergarten. Dieser - als überholt kritisiert - hatte sich in der Zwischenzeit auch dank der Grundstufe enorm entwickelt und erzielte in der Evaluation ähnlich gute Leistungswerte günstiger. Das zweite betraf die «Risikokinder». Herkunftsbedingte Unterschiede konnte auch die Grundstufe nicht verringern.
Zu wenig gewürdigt wurden wohl die weniger gut messbaren Wirkungen der Grundstufe auf die Sozial- und Selbstkompetenz der Kinder, wie der Pädagoge Kurt Reusser an der Feier festhielt. Zu diesen gehört auch der Einfluss auf die Unterrichtsentwicklung über die Eingangsstufe hinaus, namentlich was die enge Zusammenarbeit in multiprofessionellen Lehrerteams und das altersdurchmischte Lernen betrifft.


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