24. Juni 2014

Lieber spät als unmotiviert

Für den nationalen Zusammenhalt zählt nicht, wann die Kinder andere Landessprachen lernen. Sondern dass sie sie lernen. Dies sagt René Lenzin, Inland-Redaktor beim Tages Anzeiger.




"Der Kampf gegen das Englische als beliebteste Fremdsprache ist verloren", Bild: Tages Anzeiger

Lieber spät als unmotiviert, Tages Anzeiger, 23.6. von René Lenzin


Der Bund wird eingreifen, wenn sich ein Teil der Kantone weigert, bereits in der Primarschule eine zweite Landessprache zu unterrichten. Das hat Innenminister Alain Berset im Parlament klargemacht. Er hat das Recht dazu. Volk und Stände haben dem Bund mit dem Sprachen- und mit dem Schulharmonisierungsartikel das Mandat dazu erteilt. Nur: Hat er auch recht damit?
Ich gehöre zu den Bürgern, die sich in allen drei grossen Landessprachen verständigen können, und ich finde es bedauerlich und gefährlich für die Schweiz, dass diese Gattung auszusterben scheint. Trotzdem finde ich es falsch, die Frage des Frühfranzösisch in der Deutschschweiz – und des Frühdeutsch in der Romandie – zu einer Existenzfrage für den nationalen Zusammenhalt zu machen.
Was die Erfahrung zeigt
Für das Wieso bleibe ich noch etwas im Biografisch-Familiären. Ich selber bin zu einer Zeit zur Schule gegangen, als man das Wort Frühfranzösisch noch kaum buchstabieren konnte, habe an der Oberstufe aber trotzdem Französisch, Englisch und Italienisch gelernt.
Meine ältere Tochter hat in Bern ab der 5. Klasse drei Jahre Französisch­unterricht genossen, ohne wirklich etwas zu lernen. Französisch hat sie sich ab der 8.Klasse an der Schweizer Schule in Mailand angeeignet.
Meine jüngere Tochter ist erst in der 7. Klasse in den Französischunterricht eingestiegen. Dieser Tage absolviert sie in Bern die Maturaprüfung, ohne erkennbaren Nachteil gegenüber ihren Mitschülerinnen, die alle mindestens zwei Jahre früher mit Französisch angefangen haben.
Schliesslich sei noch meine Mutter erwähnt: Sie hat, ohne Matura oder akademischen Abschluss, Französisch und Italienisch gelernt – bei Aufenthalten im Welschland und im Tessin.
Viele sind überfordert
Nun kann man natürlich einwenden, dass die heutigen Jugendlichen nicht mehr als Au-pair in die andern Sprachregionen gehen können oder wollen und dass sie die Landessprachen daher in der Schule erwerben müssen. Das mag so sein. Aber glaubt jemand wirklich im Ernst, dass die kleinen Romands gerne Deutsch und die kleinen Deutschschweizer gerne Französisch lernen, weil es für den nationalen Zusammenhalt zentral ist? Dass Fremdsprachen und Mathematik wichtig sind, um etwas zu werden im Leben, kann man einem Drittklässler vielleicht noch knapp erklären. Dass Französisch wichtig ist, damit das Land nicht auseinanderfällt, wohl eher nicht.
Schauen wir die Sache einmal pädagogisch an und stellen wir zwei Thesen auf. Erstens: Von zwei Fremdsprachen in der Primarschule ist die eine Hälfte der Schüler überfordert. Und die andere Hälfte hat wenig Lust, neben Englisch auch noch Deutsch, Französisch oder Italienisch zu lernen. Das ist eine wunderbare Mischung, um den Schülern die Freude an den Landessprachen definitiv auszutreiben. Dient das wirklich dem nationalen Zusammenhalt? Zweitens: Auf das gewünschte Niveau in der zweiten Landessprache kommen die Schüler im Durchschnitt auch dann, wenn der Unterricht erst auf der Sekundarstufe einsetzt.
Der Kampf gegen das Englische ist verloren
Wenn sich Westschweizer und Deutschschweizer Schüler begegnen, ist die Chance gross, dass sie Englisch miteinander reden. Weil es cooler ist. Und weil die Westschweizer – trotz der rhetorischen Bekenntnisse ihrer Politiker zum Frühdeutschen – eben auch nicht besser Deutsch können als die Deutschschweizer Französisch.
Fakt ist: Der Kampf gegen das Englische als beliebteste Fremd­sprache ist verloren, sowohl in der Deutsch- als auch in der französischen und der italienischen Schweiz. Nun muss die Schule dafür sorgen, dass die Landessprachen trotzdem ihren Platz erhalten. Dabei ist nicht das Wann entscheidend, sondern das Wie.
Wie wäre es zum Beispiel, den Sprachunterricht an der Sek mit Geschichte und Staatskunde zu kombinieren, um die Bedeutung der Landessprachen zu thematisieren? Und warum nicht einen mindestens zweiwöchigen Aufenthalt in einer andern Sprachregion für alle Acht- oder Neuntklässler für obligatorisch erklären? In meiner Generation waren viele in der Westschweiz im Landdienst. Geschadet hat es sicher nicht.


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