Brigitte Fleuti macht sich Gedanken zum Verhältnis Eltern-Kind.
Der externe Standpunkt. Was Kinder brauchen, um gut in die Schule zu starten, NZZaS, 22.6. von Brigitte Fleuti
Ein Kurs für alle Lebenslagen? Wie diese Woche bekannt geworden
ist, bieten verschiedene Schweizer Schulgemeinden, etwa die Stadt Aarau,
Vorbereitungskurse für den Kindergarten an. In solchen Crashkursen sollen
Kinder mit elementaren sozialen und motorischen Fähigkeiten vertraut gemacht
werden, die es im Kindergarten braucht.
Vor 30 Jahren wurden die Regeln des Zusammenlebens in
kinderreichen Familien und Nachbarschaften geübt. Anstand, Begrüssungsrituale
und Regelbewusstsein waren eine Selbstverständlichkeit. Mit Ausnahmen,
natürlich?. . .
Heute jedoch kommen nicht mehr 24 Kinder, sondern eher 24 kleine
Prinzen und Prinzessinnen (und deren Königseltern) zu uns in den Kindergarten.
Ungeübt darin, das eigene Bedürfnis auch einmal zurückzustellen, sind sie gerne
im Mittelpunkt. Ein einfaches Singspiel kann so zur grössten Herausforderung
werden. Alle wollen die Ersten sein, die Einzigen, und das verkünden sie
lauthals, reklamieren oder beginnen gar zu weinen, wenn ein anderes Kind an der
Reihe ist. Warten zu können, zuschauen und erkennen, wie das Spiel und die
Gemeinschaft in einer Gruppe funktionieren, oder auch eine angemessene
Frustrationstoleranz, sind Fähigkeiten, die viele vierjährige Kinder nicht mehr
mitbringen.
Die Klärung der vielen kleinen und grossen Störungen nimmt die
Aufmerksamkeit der Lehrerin oder des Lehrers im Kindergarten in Anspruch und
lässt das Unterrichten und die Lerninhalte zeitweise in den Hintergrund treten.
Dass in den heterogener gewordenen Klassen andere Kinder mit sehr guten und
vielfältigen Kompetenzen ausgerüstet sind, macht die Führung der Gruppe nicht
einfacher.
Die heutigen Kinder treten selbstbewusster auf, sie gehen eher auf
Erwachsene zu. Sie sind und waren schon von klein auf einer Vielzahl von
Eindrücken ausgesetzt. Kinderwagen werden durch die Einkaufsmeile geschoben,
mit Müttern, die oft dauernd am Telefonieren sind. Das Kind ist den Geräuschen,
Stimmen, fremden Gesichtern und Gerüchen hilflos ausgeliefert, ohne
Blickkontakt zur Mutter. Für Kleinkinder bedeutet das Verwirrung und Stress.
Was aber entspräche denn am besten einem Kleinkind, das sich im
Anflug auf seine Schulkarriere befindet? Viele kleine, naheliegende Dinge!
Eltern etwa, die ihr iPhone auch einmal abschalten und sich einen Termin mit
ihrem Kind eintragen. Dazu gehört: zusammen spielen, miteinander sprechen, den
Wald entdecken, auf einem Baumstamm balancieren und erleben, wie gut frische
Waldluft tut. Denn Kinder be-greifen die Welt. In der Küche eine Gurke in
Scheiben schneiden, selber ausprobieren, was man mit Schachteln, Papier, Leim
und Farben alles gestalten kann - dabei lernt das Kind den Umgang mit
Materialien und die Feinmotorik, die später auch für den Schrifterwerb wichtig
ist. Eltern sind die besten Erzieher. Sie lieben ihr Kind. Ihr Kind liebt sie
und braucht sie, um in dieser Welt klarzukommen. Da braucht es keine permanente
Auslagerung an Fachleute. Ballett, Waldzauber, Geigenunterricht - das mag eine
schöne Erweiterung für das kindliche Umfeld sein. Die Grundlagen aber werden zu
Hause gelernt.
Auch ein geregelter Tagesablauf gibt eine wertvolle Struktur, in
der das Kind lernt, dass es verschiedene Zeiten gibt: Zeit für Zuwendung, Zeit
für Schlafen, Zeit für Essen, Zeit für Musse, Zeit für das Miteinander- und für
das Alleinsein. Daran kann es sich orientieren, denn es kennt die Abläufe. So
kann es auch lernen zu warten, denn es weiss ja, was kommt. Eltern sind Vorbild
und wichtigstes Gegenüber. Von ihnen lernen die Kinder, von ihnen werden sie in
das Leben eingeführt, erweitern sprechend und erzählend ihren Wortschatz, hören
Geschichten, Bilderbücher, Fingerverse und spüren Geborgenheit.
Eltern, die ihre Verantwortung übernehmen, geben ihren Kindern in
den ersten Jahren die wichtigsten Voraussetzungen für die Schuljahre und das
Leben ganz selbstverständlich mit. Der Besuch einer Spielgruppe gehört dann
einfach zur Erweiterung und Vernetzung mit anderen Kindern.
Zurück zu den Crashkursen. Was für eine Mehrheit überflüssig ist,
kann für eine Minderheit sehr sinnvoll sein. Etwa für Kinder, die in den ersten
Lebensjahren nicht in entwicklungssförderndem Milieu aufwachsen oder einen
Migrationshintergrund haben. Leitet eine Fachfrau diese Vorbereitung, die in
vertrauensvoller Atmosphäre die unterschiedlichen Voraussetzungen der
Beteiligten aufnimmt, können solche Crashkurse Kindern und Eltern den Start im
Kindergarten erleichtern. Die wertvolle Kindergartenzeit wird dann optimal
genutzt.
Für alle andern ist oft das ganz Naheliegende das Richtige. Liebe
Väter, liebe Mütter, warum nicht heute zusammen mit dem Sohn oder der Tochter
eine Wurst bräteln gehen? Das Wetter bietet sich geradezu an!
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