Initianten und Teilnehmer des Fly-Projekts, Bild: Adrian Moser
Wenn Jugendliche zu Hilfslehrern werden, Der Bund, 21.5. von Reto Wissmann
«Im Kindergarten lerne ich, Verantwortung zu übernehmen», sagt
der 15-jährige Enis. Er besucht die 8. Klasse im Bieler Oberstufenzentrum
Madretsch. Dort gelingt es ihm aber oft nicht, sich zu konzentrieren, dem
Unterricht zu folgen, sich anzupassen und mit den Lehrpersonen und den
Anforderungen der Schule klarzukommen. Viel besser läuft es im Kindergarten
gleich nebenan, wo Enis regelmässig die Lehrerin unterstützt, die Turnstunde
leiten hilft oder mit den Kindern bastelt und spielt. Seine Einsätze als Assistent
leistet er dort im Rahmen des Projekts Fly, das in Madretsch entwickelt wurde.
«Fly heisst das Projekt, weil die Jugendlichen aus dem gewohnten
Umfeld ausfliegen, um ausserhalb der Schule Schlüsselkompetenzen zu erlernen»,
sagt Marian Schneider, die Lehrerin für Integrative Förderung (IF) der Schule.
Fly wird im Oberstufenzentrum als Freifach angeboten, die Jugendlichen können
sich dafür einschreiben, wie sie sich für Theaterstunden oder
Maschinenschreiben anmelden. Einige Plätze sind aber auch für Schülerinnen und
Schüler reserviert, die in der Schule Probleme haben – oder machen.
Arbeiten ausserhalb der Schulzeit
Die Fly-Jugendlichen arbeiten einmal pro Woche während zwei oder
vier Lektionen in einer Kleinklasse, einer Primarschule, einer Empfangsklasse,
einem Kindergarten oder einem Altersheim. Dort helfen sie im Unterricht, betreuen
Kinder oder Betagte und führen mit ihnen gar eigene kleine Projekte durch.
Einmal pro Monat trifft sich dann die derzeit 18-köpfige Fly-Gruppe ausserhalb
der Schulzeit mit Klassenlehrerin und Heilpädagogin Magdalena Wenger, um über
ihre Erfahrungen zu diskutieren.
«In diesen Einsätzen erleben die Jugendlichen Seiten von sich
selber, die sie vorher gar nicht kannten», sagt Wenger. Sie übernehmen
Verantwortung, fühlen sich in die kleineren Kinder ein und helfen ihnen weiter.
«Sehr wichtig ist dabei der Rollenwechsel», so Wenger. Plötzlich werden die
Jugendlichen von den Kleineren bewundert und beinahe als Lehrperson
respektiert. «Das lässt sie wachsen», sagt Marian Schneider.
Milena, die ebenfalls am Projekt teilnimmt, formuliert es so:
«Es ist schön, auch einmal Anweisungen zu geben und nicht immer nur Befehle
befolgen zu müssen.» In der Einführungsklasse, wo sie immer mittwochs aushilft,
muss sie aber auch die Erfahrung machen, dass es nicht immer einfach ist, sich
durchzusetzen.
Doch warum arbeiten Jugendliche freiwillig als «Hilfslehrperson»
in einer anderen Schulklasse, anstatt an einem Band- oder Theaterprojekt
teilzunehmen? Bei den Mädchen gehe es schon in Richtung Berufsvorbereitung,
weiss Marian Schneider. Sie möchten später einen Beruf mit Kindern ausüben und
haben mit Fly eine erste Gelegenheit, zu schnuppern. Für die Teilnahme erhalten
sie ein Zertifikat, das sie einer späteren Bewerbung beilegen können.
«Bringt ihnen emotional viel»
Doch auch bei den Buben gilt als Antrieb, anderen zu helfen, Wissen
weiterzugeben und etwas Sinnvolles zu tun. Nicht selten sind es solche, die
selber eine schwierige Kindheit hatten. Die Befürchtung, dass sich Jugendliche
nur anmelden, um Schulstunden zu entkommen, hat sich nicht bewahrheitet. «Sie
sind ernsthaft dabei, und die Arbeit bedeutet ihnen wirklich etwas», sagt
Marian Schneider, «und sie merken, wie viel es ihnen emotional gibt.»
«Die Arbeit mit den Kleinen im Kindergarten hilft mir,
geduldiger zu werden», erzählt Enis nach fast einem halben Jahr im Fly. Er lerne
dort aber beispielsweise auch, Blickkontakt aufzunehmen, wenn er mit Kindern
oder Erwachsenen spreche, oder schlicht höflich zu sein. Magdalena Wenger, die
in Madretsch eine Kleinklasse unterrichtet, ist immer wieder verblüfft, wozu
die Jugendlichen fähig sind. «Plötzlich sind sie pünktlich und haben alles
dabei, was sie brauchen», sagt sie. In der Schule zu spät zu kommen, sei für
viele sonst normal, im Fly-Einsatz erlaubten sie sich das jedoch nicht.
Die 64-jährige IF-Lehrerin Marian Schneider hat ihr ganzes
Berufsleben mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen gearbeitet. Je länger, je
mehr fragt sie sich: «Ist die Schule tatsächlich der richtige Ort, wo
Jugendliche das lernen, was sie fürs Leben brauchen?» Schneider weiss, dass
vielen Kindern das Schulsystem mit fixem Stundenplan und viel Frontalunterricht
nicht entspricht und dass sie ausserhalb dieses Rahmens andere Fähigkeiten
zeigen könnten. Sie plädiert dafür, den Jugendlichen mehr Gelegenheiten zu
geben, ausserhalb der Schule Erfahrungen zu sammeln und ihre Stärken zu zeigen.
Filmaufnahmen als Spiegel
Oft muss sie ihnen aber erst einmal selber ihre Stärken vor
Augen führen. «Viele haben ein sehr schlechtes Selbstbewusstsein», sagt Marian
Schneider. Dafür nimmt sie die Marte-Meo-Methode zu Hilfe, die weltweit in
vielen sozialen Berufsfeldern eingesetzt wird. Dabei werden die Schülerinnen
und Schüler bei ihrem Einsatz gefilmt und ausgewählte Szenen später gemeinsam
analysiert.
«Verbale Rückmeldungen haben bei Jugendlichen oft keine
nachhaltige Wirkung», sagt Schneider, «wenn sie aber selber sehen, was sie aus
eigener Kraft zu leisten vermögen, dann geht das viel tiefer.» Sie zeigt den
Jugendlichen beispielsweise Szenen, in denen sie auf die kleineren Kinder
eingehen und sie motivieren, etwas Neues auszuprobieren. Schneider: «Trotz der
grassierenden Selbstdarstellung im Internet wissen die Jugendlichen oft gar
nicht, wie sie tatsächlich auf andere wirken. Wenn sie sich dann im Video
sehen, sind sie oft völlig fasziniert.»
Die beiden Lehrerinnen möchten das Projekt im nächsten Schuljahr
von einem halben auf ein ganzes Schuljahr ausdehnen. Nach gut drei Jahren ist
Fly ausgereift, negative Rückmeldungen von den Lehrpersonen an den Einsatzorten
gab es bisher nicht. «Sie machen mit grossem Engagement mit und bezeichnen das
Projekt als Win-win-Situation», sagt Marian Schneider. Sie könnte sich gut
vorstellen, dass andere Schulen Fly übernehmen. Das Projekt wäre jedenfalls
bereit abzuheben.
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