21. Mai 2014

Schwierige Schüler als Hilfslehrer

In Biel werden schwierige Oberstufenschüler als Hilfslehrer im Kindergarten eingesetzt. Diese Einsätze als Assistent werden im Rahmen des Projekts Fly geleistet.





Initianten und Teilnehmer des Fly-Projekts, Bild: Adrian Moser

Wenn Jugendliche zu Hilfslehrern werden, Der Bund, 21.5. von Reto Wissmann


«Im Kindergarten lerne ich, Verantwortung zu übernehmen», sagt der 15-jährige Enis. Er besucht die 8. Klasse im Bieler Oberstufenzentrum Madretsch. Dort gelingt es ihm aber oft nicht, sich zu konzentrieren, dem Unterricht zu folgen, sich anzupassen und mit den Lehrpersonen und den Anforderungen der Schule klarzukommen. Viel besser läuft es im Kindergarten gleich nebenan, wo Enis regelmässig die Lehrerin unterstützt, die Turnstunde leiten hilft oder mit den Kindern bastelt und spielt. Seine Einsätze als Assistent leistet er dort im Rahmen des Projekts Fly, das in Madretsch entwickelt wurde.
«Fly heisst das Projekt, weil die Jugendlichen aus dem gewohnten Umfeld ausfliegen, um ausserhalb der Schule Schlüsselkompetenzen zu erlernen», sagt Marian Schneider, die Lehrerin für Integrative Förderung (IF) der Schule. Fly wird im Oberstufenzentrum als Freifach angeboten, die Jugendlichen können sich dafür einschreiben, wie sie sich für Theaterstunden oder Maschinenschreiben anmelden. Einige Plätze sind aber auch für Schülerinnen und Schüler reserviert, die in der Schule Probleme haben – oder machen.
Arbeiten ausserhalb der Schulzeit
Die Fly-Jugendlichen arbeiten einmal pro Woche während zwei oder vier Lektionen in einer Kleinklasse, einer Primarschule, einer Empfangsklasse, einem Kindergarten oder einem Altersheim. Dort helfen sie im Unterricht, betreuen Kinder oder Betagte und führen mit ihnen gar eigene kleine Projekte durch. Einmal pro Monat trifft sich dann die derzeit 18-köpfige Fly-Gruppe ausserhalb der Schulzeit mit Klassenlehrerin und Heilpädagogin Magdalena Wenger, um über ihre Erfahrungen zu diskutieren.
«In diesen Einsätzen erleben die Jugendlichen Seiten von sich selber, die sie vorher gar nicht kannten», sagt Wenger. Sie übernehmen Verantwortung, fühlen sich in die kleineren Kinder ein und helfen ihnen weiter. «Sehr wichtig ist dabei der Rollenwechsel», so Wenger. Plötzlich werden die Jugendlichen von den Kleineren bewundert und beinahe als Lehrperson respektiert. «Das lässt sie wachsen», sagt Marian Schneider.
Milena, die ebenfalls am Projekt teilnimmt, formuliert es so: «Es ist schön, auch einmal Anweisungen zu geben und nicht immer nur Befehle befolgen zu müssen.» In der Einführungsklasse, wo sie immer mittwochs aushilft, muss sie aber auch die Erfahrung machen, dass es nicht immer einfach ist, sich durchzusetzen.
Doch warum arbeiten Jugendliche freiwillig als «Hilfslehrperson» in einer anderen Schulklasse, anstatt an einem Band- oder Theaterprojekt teilzunehmen? Bei den Mädchen gehe es schon in Richtung Berufsvorbereitung, weiss Marian Schneider. Sie möchten später einen Beruf mit Kindern ausüben und haben mit Fly eine erste Gelegenheit, zu schnuppern. Für die Teilnahme erhalten sie ein Zertifikat, das sie einer späteren Bewerbung beilegen können.
«Bringt ihnen emotional viel»
Doch auch bei den Buben gilt als Antrieb, anderen zu helfen, Wissen weiterzugeben und etwas Sinnvolles zu tun. Nicht selten sind es solche, die selber eine schwierige Kindheit hatten. Die Befürchtung, dass sich Jugendliche nur anmelden, um Schulstunden zu entkommen, hat sich nicht bewahrheitet. «Sie sind ernsthaft dabei, und die Arbeit bedeutet ihnen wirklich etwas», sagt Marian Schneider, «und sie merken, wie viel es ihnen emotional gibt.»
«Die Arbeit mit den Kleinen im Kindergarten hilft mir, geduldiger zu werden», erzählt Enis nach fast einem halben Jahr im Fly. Er lerne dort aber beispielsweise auch, Blickkontakt aufzunehmen, wenn er mit Kindern oder Erwachsenen spreche, oder schlicht höflich zu sein. Magdalena Wenger, die in Madretsch eine Kleinklasse unterrichtet, ist immer wieder verblüfft, wozu die Jugendlichen fähig sind. «Plötzlich sind sie pünktlich und haben alles dabei, was sie brauchen», sagt sie. In der Schule zu spät zu kommen, sei für viele sonst normal, im Fly-Einsatz erlaubten sie sich das jedoch nicht.
Die 64-jährige IF-Lehrerin Marian Schneider hat ihr ganzes Berufsleben mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen gearbeitet. Je länger, je mehr fragt sie sich: «Ist die Schule tatsächlich der richtige Ort, wo Jugendliche das lernen, was sie fürs Leben brauchen?» Schneider weiss, dass vielen Kindern das Schulsystem mit fixem Stundenplan und viel Frontalunterricht nicht entspricht und dass sie ausserhalb dieses Rahmens andere Fähigkeiten zeigen könnten. Sie plädiert dafür, den Jugendlichen mehr Gelegenheiten zu geben, ausserhalb der Schule Erfahrungen zu sammeln und ihre Stärken zu zeigen.
Filmaufnahmen als Spiegel
Oft muss sie ihnen aber erst einmal selber ihre Stärken vor Augen führen. «Viele haben ein sehr schlechtes Selbstbewusstsein», sagt Marian Schneider. Dafür nimmt sie die Marte-Meo-Methode zu Hilfe, die weltweit in vielen sozialen Berufsfeldern eingesetzt wird. Dabei werden die Schülerinnen und Schüler bei ihrem Einsatz gefilmt und ausgewählte Szenen später gemeinsam analysiert.
«Verbale Rückmeldungen haben bei Jugendlichen oft keine nachhaltige Wirkung», sagt Schneider, «wenn sie aber selber sehen, was sie aus eigener Kraft zu leisten vermögen, dann geht das viel tiefer.» Sie zeigt den Jugendlichen beispielsweise Szenen, in denen sie auf die kleineren Kinder eingehen und sie motivieren, etwas Neues auszuprobieren. Schneider: «Trotz der grassierenden Selbstdarstellung im Internet wissen die Jugendlichen oft gar nicht, wie sie tatsächlich auf andere wirken. Wenn sie sich dann im Video sehen, sind sie oft völlig fasziniert.»
Die beiden Lehrerinnen möchten das Projekt im nächsten Schuljahr von einem halben auf ein ganzes Schuljahr ausdehnen. Nach gut drei Jahren ist Fly ausgereift, negative Rückmeldungen von den Lehrpersonen an den Einsatzorten gab es bisher nicht. «Sie machen mit grossem Engagement mit und bezeichnen das Projekt als Win-win-Situation», sagt Marian Schneider. Sie könnte sich gut vorstellen, dass andere Schulen Fly übernehmen. Das Projekt wäre jedenfalls bereit abzuheben.


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