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Was die Schweiz ist, Weltwoche 16/2014 von Pascal Couchepin
Frühfranzösisch,
Frühenglisch? Die Diskussion muss in einem breiteren Rahmen geführt werden. Es
geht um viel mehr als eine rein schulische Entscheidung.
Erste Bemerkung: Bis heute
findet die Diskussion einzig in der deutschen Schweiz statt. Meines Wissens wird
Frühenglisch in den Schulen der Romandie von niemandem gepriesen. Überall ist
Deutsch Pflichtfach, ohne dass dies zu Kontroversen führt. Für diese
Feststellung muss es eine Erklärung geben. Es gibt gute Gründe dafür, dass die
einfachste auch die wahre ist: Die Romands, weniger zahlreich, anerkennen die
Notwendigkeit, Grundkenntnisse in der Sprache der Mehrheit zu haben. Umgekehrt
wäre dem nicht so. Die Mehrheit sieht keine Notwendigkeit, die Sprache der
Minderheiten zu lernen. Also wäre die Debatte um die zweite Sprache in der
Primarschule Ausdruck einer gewissen Gleichgültigkeit der Deutschschweizer den
Romands und den Tessinern gegenüber.
Ich habe oft wiederholt,
dass die Romands und die Tessiner in der Schweiz keine Minderheit sind, wie es
etwa die Albaner in Zürich sind. Sie sind ein Bestandteil der Schweiz, weniger
zahlreich als die Deutschschweizer, aber genauso ein Bestandteil. Ohne uns,
Romands und Tessiner, wäre die Schweiz nicht die Schweiz. In anderen Ländern
ist die Situation anders. Wenn der Elsässer Dialekt verschwinden würde, wäre
das kulturell bedauernswert, aber es würde die Identität Frankreichs nicht
verändern. Gäbe es ohne Romands und Tessiner noch eine Schweiz, in der Deutsch
die einzige Sprache wäre? Nein, das wäre nicht mehr die Schweiz. Es wäre etwas
anderes. Die Koexistenz mehrerer Sprachen ist für die Schweiz grundlegender als
die relativ junge direkte Demokratie oder die Neutralität, deren Definition je
nach unserer Interessenlage variiert.
Wenn diese Betrachtung der
Schweiz richtig ist, kommt dem vorrangigen Erlernen einer zweiten Landessprache
eine besondere Bedeutung zu. Es muss für den Zusammenhalt des Landes
unterstützt werden. Die sogenannt pädagogischen Argumente werden daneben
zweitrangig. Im Übrigen scheinen mir diese berühmten pädagogischen Argumente
nicht ernsthaft. Gehen wir unter dem Vorwand, pädagogisch wäre ein anderer
Stoff leichter, der Abschaffung des Mathematikunterrichts entgegen?
Die Einheit eines Landes
wie der Schweiz ist fragiler, als man denkt. Es gab Zeiten, in denen diese
Einheit wackelte. Das ist seit fast hundert Jahren glücklicherweise nicht mehr
der Fall. Aber diese Befriedung beruht auf dem Respekt gegenüber einer ganzen
Reihe von Gleichgewichten, die zwar nicht verfassungsmässig verankert sind, aber
in der Praxis anerkannt werden. Man denke an die Vertretung von Romandie und
Tessin im Bundesrat. Oder an die gelegentlich holprige Eleganz, mit der auch
bei freundschaftlichen Treffen zwischen Deutschschweizern, Welschen und
Tessinern hochdeutsch gesprochen wird. Leider sind einige unserer Mitbürger
nicht mehr in der Lage, fliessend hochdeutsch zu sprechen.
Arrogante Sichtweise
Ein letzter Punkt: Ich bin
überzeugt, dass es wichtig ist, zuzugeben, dass unsere sprachliche
Verschiedenheit auch der Ausdruck unterschiedlicher Mentalitäten ist. Dem wird
nicht immer beigepflichtet. Ein Politiker aus der deutschen Schweiz sagte
einmal zu mir, eigentlich dächten die Romands in Sachen Politik genau wie die
Deutschschweizer, sie wüssten es nur noch nicht: Mit Geld, Propaganda und
einigen gewitzten Söldnern werde man das korrigieren. Eine solche Sichtweise
ist nicht nur arrogant, sie ist auch tödlich in Bezug auf die nationale
Einheit.
Ich bin nicht dafür, dass
die Wahl einer Landessprache als zweite Sprache von Bundesbern auferlegt wird.
Aber ich bin überzeugt, dass alle, denen dieses Land jenseits von niedrigem
Rationalismus am Herzen liegt, wissen, dass es hier nicht nur um ein
praktisches oder pädagogisches Problem geht, sondern um etwas Fundamentaleres.
Die Schweiz ist unter
vielen Aspekten ein Erfolg, vor allem aber deswegen, weil sie es geschafft hat,
Patriotismus nicht mit einer einzigen sprachlichen, religiösen oder politischen
Kultur zu identifizieren. Die anderen Komponenten unserer Identität scheinen
mir im Vergleich dazu zweitrangig. Wenn etwas an der Schweiz exemplarisch ist,
dann die Sorge um den Mitbürger, der sich durch eine andere Sprache und eine
andere kulturelle Identität unterscheidet. Diese Eigenschaft zu schwächen,
bedeutet, die Schweizer Identität zu bedrohen.
Wehret den Anfängen!
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