16. April 2014

"Lehrplan soll Richtlinie sein und keine Bibel"

Die politisch Verantwortlichen sollten die Funktion des neuen Lehrplans 21 klar umschreiben, sagt der oberste Lehrer, Beat Zemp, im Interview. Sie dürften den Lehrplan nicht als Kontrollinstrument missbrauchen.


Zemp: "Eine absolute Methodenfreiheit hat es nie gegeben", Bild: SRF

"Der Unterricht muss frei von jeglicher Indoktrination sein" NZZ, 16.4. von Michael Schoenenberger



Reicht dem Lehrerverband die Reduktion des Inhalts um 20 Prozent?
Bei der Kürzungsvorgabe der Steuergruppe - 20 Prozent - handelt es sich um eine relevante Grössenordnung. Wäre es deutlich weniger gewesen, hätten wir zu Recht gesagt, die Kürzung sei reine Kosmetik am Lehrplan. Ob die Reduktion reicht, können wir aber erst beurteilen, wenn die überarbeitete Version vorliegt.
Es bliebe noch immer ein grosses Dokument mit vielen Kompetenzen. Setzen Sie sich für eine weitere Reduktion ein?
In einigen Fachbereichen kann man noch mehr kürzen, indem man Redundanzen streicht und detaillierte Beschreibungen von Kompetenzstufen weglässt, die nicht unbedingt nötig sind. Ein guter Lehrplan soll die Lehrpersonen nicht gängeln, sondern ihnen wie ein Kompass helfen, ihren Unterricht auf Kurs zu halten.
Die Verantwortlichen der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, der D-EDK, betonen, die Methodenfreiheit bleibe bestehen. Teilen Sie als Fachperson diese Einschätzung?
Eine absolute Methodenfreiheit hat es nie gegeben. Die Lehrmittel waren schon immer der heimliche Lehrplan und hatten grossen Einfluss auf die Unterrichtsmethodik. Trotzdem gab und gibt es einen methodischen Spielraum für Lehrpersonen, den wir unbedingt erhalten müssen. Aus den Befragungen von Zehntausenden von Lehrpersonen wissen wir, dass die Möglichkeit, Neues auszuprobieren, die Berufszufriedenheit erhöht.
Müssten nicht Sicherheiten eingebaut werden, damit Lehrpersonen auch künftig Methodenfreiheit geniessen?
Es ist wichtig, dass die politisch Verantwortlichen die Funktion des Lehrplans klar umschreiben und ihn nicht als engmaschiges Kontrollinstrument missbrauchen. EDK-Präsident Christoph Eymann hat in einem Interview kürzlich gesagt, der Lehrplan 21 solle lediglich eine Richtlinie sein und keine Bibel, die man sklavisch befolgen müsse. Das sehen wir auch so.
Der LCH hat angemahnt, der Lehrplan dürfe nicht Einstellungen, Haltungen oder politische Wertungen enthalten. Wie ist das zu verstehen?
Solange die Volksschule obligatorisch ist und nicht durch ein System mit freier Schulwahl und einer Vielzahl von ideologisch geprägten Schulen abgelöst wird, muss der Unterricht frei von jeglicher Indoktrination politischer oder religiöser Art sein. Natürlich gibt es keinen absolut wertfreien Unterricht - nicht einmal in der Mathematik. Es geht hier aber um Themen, die gesellschaftlich umstritten sind. Diese dürfen an den öffentlichen Volksschulen nicht einseitig vermittelt werden. Vielmehr sollen Schülerinnen und Schüler dazu befähigt werden, selber Werthaltungen aufzubauen und ethische Fragen zu reflektieren.
Können Sie ein Beispiel dazu nennen?
Im Fachbereich «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt» geht es beispielsweise darum, die Rolle des Konsums zu hinterfragen. Würde man jetzt von den Lehrpersonen erwarten, dass sie den Schülern beibringen, jede Form von Konsum sei schlecht, so wäre das eine unzulässige Vorgabe. Hingegen ist es richtig, dass die Lernenden das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung verstanden haben müssen, damit sie überhaupt ihre Rolle als Konsumenten reflektieren können.
Wo sehen Sie sonst die problematischen Passagen bei den Werthaltungen?
Es geht uns hier um die grundsätzliche Frage, ob wir Kompetenzen beurteilen müssen, die erzieherische Werthaltungen enthalten. Wir sind der Meinung, dass dies objektiv weder machbar noch wünschbar ist, weil damit ein unzulässiger Eingriff in die elterliche Erziehungshoheit einhergeht. Wir können den Schülerinnen und Schülern zwar durchaus beibringen, wie eine gesunde und nachhaltige Ernährung aussieht, aber ich möchte niemanden mit einer schlechten Note bestrafen, wenn er sagt, dass er ab und zu einen Hamburger isst.
Neu ist von Grundansprüchen die Rede, die am Ende eines Zyklus erreicht werden müssen. Anforderungen werden gesenkt, wie Sie das gefordert haben. Wie wird sichergestellt, dass gute Schüler ihren Fähigkeiten entsprechend gefördert werden?
Das reale Unterrichtsniveau wird nicht dadurch gesenkt, dass wir im Lehrplan in einigen Fällen zu hohe Grundansprüche anpassen. Das ist wie beim Hochsprung. Wenn die Latte auf 2,50 Meter gelegt wird, holt niemand Anlauf, weil die Hürde zu hoch ist.
Die Deutschschweizer EDK will im Lehrplan 21 die Wissensanforderungen in einigen Fachbereichen sichtbarer machen. Reicht das?
Der Lehrplan 21 kann nicht auch noch die Wissensanforderungen für sämtliche Lehrmittel bis ins letzte Detail festlegen. In vielen Fächern gibt es ja bereits bewährte und grundlegende Wissensgebiete, die weiterhin verstanden und gelernt werden müssen. In neueren oder umfassenderen Fachbereichen wie «Mensch, Natur, Gesellschaft», Informatik und Medienpädagogik hat es aber einen Sinn, wichtige Wissensthemen und Begriffe als Illustration zu den Kompetenzbeschreibungen zu nennen. Für die Übergänge in weiterführende Schulen müssen zudem wie heute inhaltliche Treffpunkte vereinbart werden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen