Von allen
unseriösen Studien aus dem Reich der Sozialwissenschaften empfinde ich jeweils die
VOX-Analysen immer für die unseriösesten. Den Beleg für mein dumpfes
Bauchgefühl lieferte wieder einmal the Master of his Voice, Claude Longchamp, der
behauptete, dass die Wahlbeteiligung der 18- bis 30-Jährigen am 9. Februar
gerade einmal 17 Prozent betragen habe.
Und weil unsere Journalisten diese "Analysen" wortgetreu übernehmen, schwappte bald einmal die obligate Welle der Empörung durchs Land. Für 20 Minuten und SRF war klar: Die SVP profitierte von der faulen Jugend.
Alain Pichard ist Lehrer und grünliberaler Stadtparlamentarier in Biel, Bild: Berner Zeitung
Berner Zeitung, 26.4. von Alain Pichard
Zwar zeigte sich einmal mehr, Klischees sorgen zwar für Schlagzeilen, sind aber ab und zu falsch. In den Kantonen Genf und Neuenburg sowie in der Stadt St. Gallen lag die Stimmbeteiligung der Jungen bei etwa 40 Prozent. Longchamp lag – wieder einmal - gewaltig daneben – genauso wie die Empörten in Politik und Medien, welche unsere direkte Demokratie bereits in höchster Gefahr vermuteten. Typisch auch wieder die belegt falsche Analyse, wonach „weniger Bildung“ zu einer Mehrheit bei der Masseneinwanderungsinitiative geführt habe. Einfach die Schlagzeile: „Die Dummen sagten JA!“ fehlte. Und so lieferte die VOX-Analyse auch ein beruhigendes Erklärungsmuster für ein verunsichertes Politestablishment. Und wer soll bitteschön handeln, wenn ein Teil der Stimmbürger es „nicht checkt“? Sie haben es erraten. Es ist die Schule, welcher in solchen Situationen immer wieder Allmachtsfantasien zugedichtet werden.
Für einmal allerdings lasse ich den Spott, weil ich überzeugt bin, dass die Schule wirklich einen Beitrag zur politischen Bildung unserer Lernenden leisten kann.
Neben gründlicher Unterrichtsvorbereitung und regelmässigen Podien mit Jungpolitikern haben wir an unserer Schule ein ordentliches Mitwirkungsverfahren eingerichtet. Der Schülerrat trifft sich regelmässig, er stellt Anträge, und vertritt diese vor der Lehrerkonferenz. Die Schülerratssitzungen finden zur Hälfte während der Unterrichtszeit statt. Der Rat hat seine eigene Zeitung, in welcher die Themen kontrovers behandelt werden. Selbstverständlich ist die Forderung, dass man in der 10-Uhr-Pause nicht hinausgehen muss oder die Finkenpflicht abgeschafft werden soll, nicht so sexy wie eine Petition gegen den Welthunger oder den Klimawandel. Aber die Schüler lernen hier etwas und zwar handlungsorientiert. Und die Forderung nach einem Schülerraum ist doch schon mal etwas, vor allem, wenn sie dann auch erfüllt und er von den Schülern in der Freizeit mit viel Freude eingerichtet wird. Wichtig ist auch, dass unsere Schüler regelmässig befragt werden, wie sie den Unterricht empfinden und welche Änderungsvorschläge sie haben. Dabei werden auch skurrile Vorschläge mit den Schülern diskutiert, wie zum Beispiel, dass von den drei Turnlektionen, eine von den Schülern bestimmt werden kann.
Gerne würde
ich hier persönlich noch etwas weitergehen und echte Mitbestimmungsmodelle
einrichten. In meiner eigenen Klasse sind wir da schon ziemlich weit gekommen. Wir
diskutieren sehr viel untereinander und stimmen auch über Schulreisen und
Projekte ab. Die Klassensprecher sind im unserem Schulhaus oft wichtige
Bezugspersonen und helfen uns auch bei Problemen wie Vandalismus oder Mobbing. Lernen
ist für mich Problemlösen, nicht nur im Unterricht. Wer will, dass die Schüler
wirklich lernen und nicht lediglich unterrichtet werden, ist auf ihre Kraft
angewiesen, Probleme zu lösen und muss ihnen dann aber auch eigenständige
Lösungen zutrauen. Die Schule lebt von den Ideen der Schüler.
In der nächsten Klassenkonferenz stehen übrigens zwei heikle Punkte an. Die Schüler wollen über meine Korrekturfaulheit diskutieren. Sie beklagen sich, dass ich die Proben und Aufsätze zu wenig schnell zurückgebe. Der zweite ist der Ausflug nach Rust. Hier sage ich: „Nur über meine Leiche!“ Sie wollen nun alle einen Halbtag nehmen und alleine gehen.
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