Mein Sohn hat die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium bestanden.
Rückblickend kann ich sagen, dass ich im Familienleben keine Zeit erlebt habe,
die so unerfreulich war wie die Monate davor. Es dauerte, bis meine Frau und
ich - an gute Leistungen unseres Sohnes gewöhnt - überhaupt bemerkten, dass es
sich nicht etwa um den normalen obligatorischen Schulstoff der 6. Klasse handelte,
sondern um einen zusätzlichen, schwierigeren Lernstoff. In meinen Augen
skandalös und rechtlich höchst fragwürdig! Sämtliche Eltern im Umkreis waren
ein halbes Jahr mit ihren Kindern oft Abend für Abend, Wochenende für
Wochenende am Pauken. In anderen Kreisen Zürichs wurden die Kids in teuren,
Jahre dauernden Privatkursen für den Tag X trainiert. Erzählte man Leuten
jenseits der Kantons- und Landesgrenzen davon, war ungläubiges Kopfschütteln
die Reaktion. Eine Prüfung dieser Dimension und Tragweite ist für 13-Jährige in
keiner Weise adäquat. Bei vielen bewirkt der Psycho-Stress angesichts der
Wichtigkeit dieser Prüfung schon im Vorfeld absinkende Noten. Viele begabte
Kinder bestehen die Prüfung nicht, weil sie mit diesem Prüfungsdruck (noch)
nicht umgehen können. Sensible Kinder bleiben oft auf der Strecke. Ein Mädchen
hatte letztes Jahr um ein Zehntel verfehlt. Soll sie deswegen nicht geeignet
sein? Wie viele kommen nicht zur Prüfung, weil den Eltern Zeit, Geld oder
Bildungsniveau fehlen? Von Chancengleichheit kann nicht die Rede sein, schon
gar nicht im Vergleich zu anderen Kantonen. Was mit der Gymi-Prüfung gefördert
wird, sind vor allem die Privatschul-Industrie und das Bewusstsein, sich das
Nötige erkaufen zu können. Leistung ist notwendig, aber warum dieser absurde
Drill? Wozu dieses antiquierte Elitedenken? Um schliesslich die Ideengeber,
Wirtschaftslenker und Ärzte aus dem Ausland zu importieren, dessen
Bildungssystem man hierzulande so gerne belächelt?
Der SVP-Politiker Rochus Burtscher «befürchtet ein weiteres
Absinken des Niveaus an Mittelschulen» und will die Prüfung verschärfen. Wenn
man das intellektuelle Niveau und das Auftreten seiner Partei betrachtet,
scheint es, als brauche es vor allem eine verschärfte Aufnahmeprüfung in der
Politik.
Gert Rappenecker, Zürich
Quelle: NZZ, 18.3.
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