Niemand hat etwas gegen Fremdsprachen, doch wann und mit welcher beginnen, das ist die Frage. Bild: de.de
Dilemma der Fremdsprache, Die Weltwoche, 09/2014, von Urs Kalberer
Während der Lehrplan 21 grossspurig von der
Vereinheitlichung der Bildungsinhalte spricht, existieren in der Deutschschweiz
gleich mehrere Modelle der Umsetzung des Sprachenkonzepts. Damit wird der
Verfassungsauftrag der Harmonisierung ausgerechnet im wichtigsten Bereich
missachtet.
Blenden wir zurück: Im Jahr 2004 fasste die
Erziehungsdirektorenkonferenz einen schwerwiegenden Grundsatzentscheid: Beraten
von führenden Sprachwissenschaftlern des Landes, beschloss man, den
Fremdsprachenunterricht um zwei Jahre vorzuverlegen. Das Hirn von Kindern sei
besonders aufnahmefähig für Sprachen. Gleichzeitig fühlte man sich durch den
weltweit zu beobachtenden Trend zur Vorverlegung der Fremdsprachen bestätigt.
Der Zeitpunkt ist nicht
entscheidend
In der Zwischenzeit zeigen die Erfahrungen mit der
Vorverlegung zwei Dinge: Es gibt noch keine praktikable Didaktik für
Primarschüler – das Versprechen des spielerischen Lernens ohne Anstrengung kann
nicht eingehalten werden. Zweitens ist der Erfolg – gemessen am riesigen
Aufwand – bescheiden. Es ist für die Sprachkompetenz am Ende der Schulzeit
nicht entscheidend, wie früh man beginnt. Kinder können nämlich ihre Vorteile
gegenüber Erwachsenen nur ausspielen, wenn sie sehr viel Kontakt zu neuen
Sprachen erhalten. Da ältere Schüler sehr viel schneller und nachhaltiger
lernen als jüngere, ist ein auf weniger Jahre komprimierter Unterricht mit mehr
Wochenlektionen gegen Ende der Schulzeit wirkungsvoller. Diese Erkenntnis ist
die erste Voraussetzung zum Durchschneiden des helvetischen Sprachenknotens
und entschärft die herrschende Hysterie rund um das schulische
Fremdsprachenlernen. Der Beginn des Unterrichts einer Fremdsprache ab
Sekundarstufe ist keine Katastrophe, sondern kann durchaus ein Vorteil sein.
In der Fremdsprachenpolitik treten die
Westschweizer Kantone geeint als eine Sprachregion auf – unabhängig davon, ob
einsprachig oder mit einem deutschsprachigen Kantonsteil. Im Unterschied dazu
sind die Deutschschweizer Kantone in heterogene Fraktionen aufgespalten.
Sprachlich gesehen besteht die Schweiz aber nicht aus 26 Kantonen, sondern aus
vier Regionen. Wie die Westschweiz soll auch die Deutschschweiz gemeinsam
auftreten. Der zweisprachige Kanton Bern muss den Deutschbernern die Freiheit
lassen, sich an der restlichen Deutschschweiz zu orientieren – genau gleich,
wie es die Französischberner mit der Romandie auch tun. Das ist der Preis für
die von der Bevölkerung geforderte interkantonale Mobilität.
Die Bedürfnisse der einzelnen Sprachregionen unterscheiden
sich deutlich voneinander. Für einen Rätoromanen ist Deutsch viel zentraler als
für einen Deutschbündner Romanisch. Unsere momentane Politik gründet auf einem
«Gleichgewicht des Schreckens». So ist aus den Reaktionen aus der lateinischen
Schweiz zwischen den Zeilen zu lesen: «Wenn wir schon das Opfer auf uns nehmen
und Deutsch ab der 3. Klasse
unterrichten, dann erwarten wir, dass auch ihr unsere Sprache ab der 3. Klasse unterrichtet.» Doch diese Art von ausgleichender Gerechtigkeit
kann keine tragende Stütze
für ein Sprachenkonzept sein.
Besonders ausgeprägt zeigt sich dies am Beispiel
des einzigen dreisprachigen Kantons Graubünden. Dort rühmt man sich eines
Konzepts, das den Schülern in jeder Sprache arithmetisch genau gleich viele
Fremdsprachenlektionen zur gleichen Zeit zumutet. Was rechtlich und politisch
durchaus vertretbar aussieht, wird in der Realität zur Farce. Die Romanen, die
zweisprachig deutsch-romanisch aufwachsen und für die Italienisch nahe liegt,
werden in den gleichen Topf geworfen wie die Deutschbündner. Diese wiederum
lernen – aus erzwungener kantonaler «Solidarität» und mit desolaten Resultaten
– ab der dritten Primarklasse
Italienisch und nicht wie ihre Kameraden in der restlichen Ostschweiz Englisch.
Wir brauchen darum eine differenzierte
Gewichtung der Interessen jeder Sprachregion.
Die zu Beginn zitierten Reaktionen auf einen Abbau
von Französisch oder Italienisch an der Primarschule gehen von einem
kontingentierten Sprachenlernen aus, das die Landesinteressen höher einstuft
als die Bedürfnisse der Lernenden. Wenn die Westschweiz wie bisher
Deutschkenntnisse als prioritär einstuft, dann darf sie das tun. Niemand soll
aber die Italienischbündner und Tessiner zwingen, Deutsch zu lernen, genau
gleich, wie niemand den Deutschschweizern ein schlechtes Gewissen einreden
darf, wenn sie Französisch erst ab der Oberstufe lernen wollen.
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