"Wenn wir uns jetzt nicht wehren, ist der Zug abgefahren." Bild: Patrick Gutenberg
"Viele Kinder sind überfordert", Sonntagszeitung, 19.1. von Balz Spörri
Eigentlich schien die Sache längst gegessen: Alle Kinder in der Schweiz
lernen in der Primarschule zwei Fremdsprachen, die erste spätestens ab der
dritten Klasse, die zweite spätestens ab der fünften. So steht es in der
Sprachenstrategie der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) von
2004.
Doch jetzt droht das sogenannte Modell 3/5, bevor es überhaupt umgesetzt
worden ist, zu scheitern. In mehreren Kantonen wurden in den letzten Monaten
politische Vorstösse eingereicht, die verlangen, dass auf der Primarstufe nur
noch eine Fremdsprache unterrichtet wird. «Wir glauben nicht mehr an eine
erfolgreiche Umsetzung des Fremdsprachenkonzepts», sagt Annamarie Bürkli,
Primarlehrerin in Eschenbach LU und Präsidentin des Luzerner Lehrerinnen- und
Lehrerverbands. Bürkli ist Co-Präsidentin eines breit abgestützten Komitees,
das Ende September die kantonale Volksinitiative «Eine Fremdsprache auf der
Primarstufe» lanciert hat. Die Unterschriftensammlung läuft.
Es wäre gescheiter, Deutsch zu stärken
In Graubünden wurde Ende November die Initiative «Nur eine Fremdsprache
in der Primarschule» mit 3700 beglaubigten Unterschriften eingereicht.
Voraussichtlich 2015 kommt die Vorlage vors Volk. In den Kantonsparlamenten von
Thurgau, Basel-Landschaft und Schaffhausen sind Vorstösse hängig, die ebenfalls
nur eine obligatorische Fremdsprache fordern. In Nidwalden und Zug muss der
Regierungsrat das Fremdsprachenkonzept umfassend evaluieren lassen. «Es brodelt
überall», sagt Urs Kalberer, Sekundarlehrer in Landquart GR und einer der
prominentesten Kritiker von zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe. Wie
umstritten das Modell 3/5 ist, zeigte auch die gerade abgeschlossene
Konsultation zum Lehrplan 21: Die SVP möchte den Fremdsprachenunterricht auf
die Oberstufe verlegen. Der Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH),
der rund 50 000 Lehrkräfte vertritt, hält in seiner Stellungnahme fest: «Zwei
obligatorische Fremdsprachen sind zu viel.» Falls sich die Bedingungen nicht
besserten, soll die zweite Fremdsprache nur noch als Wahlpflichtfach
unterrichtet werden.
Die Kritik am Modell 3/5 ist grundlegend: Viele Kinder, so wird moniert,
seien mit zwei Fremdsprachen überfordert. Statt die Kinder spielerisch an die
Sprachen heranzuführen, müssten die Lehrkräfte Noten geben, die beim Übertritt
in die Sekundarstufe zählten. Es wäre gescheiter, Deutsch und die
mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer zu stärken. Und: Das frühe
Fremdsprachenlernen bringe viel Aufwand, aber wenig Ertrag.
«Rund 20 bis 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind mit zwei
Fremdsprachen überfordert», sagt die Luzerner Primarlehrerin Annamarie Bürkli.
Statt sie zu zwingen, ab der fünften Klasse eine zweite Fremdsprache zu lernen,
wäre es besser, wenn sie ihre Ressourcen anderswo einsetzen könnten. «Heute
straft man diese Kinder ab und verleidet ihnen die Schule.»
Andrea Haenni Hoti kontert die Kritik: «Die Mehrheit der Primarschüler
kommt mit zwei Fremdsprachen gut zurecht», sagt die Professorin für Bildungs-
und Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Haenni Hoti
hat die bislang umfangreichste Studie zum Thema durchgeführt. Sie verglich 2009
die fremdsprachlichen Kompetenzen von rund 550 Innerschweizer Schülern, die
nach dem Modell 3/5 unterrichtet wurden, mit 370 Luzerner Kindern, die an der
Primarschule nur eine Fremdsprache gelernt hatten. Geprüft wurde auch die
Lesekompetenz in Deutsch.
«Die grosse Mehrheit der Schüler erfüllt die Lernziele», sagt Haenni
Hoti. Drei Viertel der Kinder, so zeige die Studie, würden bis Ende der
Primarschulzeit die erwünschte Lesekompetenz in Englisch erreichen oder
übertreffen, und auch die Leistungen in Französisch würden den Erwartungen
entsprechen. Haenni Hoti räumt ein, dass gewisse Kinder mit zwei Fremdsprachen
Mühe hätten. Diese Kinder müsse man gezielt fördern. «Das bedeutet indes nicht,
dass deswegen alle Primarschüler auf den Erwerb einer zweiten Fremdsprache
verzichten müssen.»
Die Bildungsforscherin betont, dass die Deutschkompetenzen der Kinder
keineswegs unter dem Fremdsprachenunterricht leiden würden, wie dies die
Kritiker des Modells 3/5 gern ins Feld führen. Falsch sei auch das Vorurteil,
dass vor allem Kinder mit Migrationshintergrund von zwei Fremdsprachen
überfordert seien. Migrationssprachen seien für das Erlernen von Fremdsprachen
vielmehr eine «wichtige Ressource».
Allerdings: Ob das Modell 3/5 besser ist als das Modell 3/7, bei dem die
zweite Fremdsprache erst in der Oberstufe unterrichtet wird, ist umstritten.
«Der Nutzen des frühen Beginns wird überschätzt», sagt Urs Kalberer. In seiner
Masterarbeit hat der Bündner Sekundarlehrer 2007 gezeigt, dass Schüler, die
erst ab der 7. Klasse Englisch lernten, den Vorsprung der Kinder, die bereits
in der Primarschule damit begonnen hatten, rasch aufholten. «Ältere Schüler
weisen bessere Resultate auf als jüngere, wenn sie gleich viele Lektionen
besucht haben», sagt Kalberer, der selbst Englisch unterrichtet.
Kritik von Eltern und Lehrkräften
Die Kritik am Modell 3/5 kommt vor allem von Lehrkräften und Eltern.
Vertreter der Pädagogischen Hochschulen (PH) und Bildungspolitiker beurteilen
die Einführung des frühen Fremdsprachenunterrichts weitaus positiver. «Alles in
allem ist sie gut unterwegs», meint EDK-Präsident Christoph Eymann (siehe
Interview). Kritiker wie Urs Kalberer betrachten die Vorstösse gegen zwei
Fremdsprachen deshalb auch als «Aufstand gegen die Bildungsbürokratie». Die
EDK, so Kalberer, verschliesse die Augen vor der Realität und glaube einzig den
PH-Vertretern. Die Lehrer dagegen, die «mit ihren Klassen am Berg stehen»,
hätten das Vertrauen in die PH-Leute verloren.
In Luzern hofft man jetzt auf ein «schweizweites Umdenken», bevor der
Lehrplan 21 eingeführt wird. Denn damit würden endgültig zwei Fremdsprachen auf
der Primarstufe festgeschrieben, sagt Annamarie Bürkli. «Wenn wir uns jetzt
nicht wehren, ist der Zug abgefahren.»
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