19. Januar 2014

Schweizweites Umdenken gefordert

Verbunden mit dem Lehrplan 21 wird gleichzeitig auch ein umstrittenes Sprachenkonzept in Kraft gesetzt, das flächendeckend zwei Fremdsprachen in der Primarschule (Beginn ab der 3. resp. 5. Klasse) verankert. Doch noch bevor das Konzept überall umgesetzt wurde, sieht es sich mit massivem Widerstand von Lehrer- und Elternseite konfrontiert. Die Luzerner Sprachforscherin Andrea Haenni Hoti meint: "Die grosse Mehrheit der Schüler erfüllt die Lernziele". Es sei ein Vorurteil, dass Kinder mit Migrationshintergrund überfordert seien. Gerade die Migrationssprachen seien für das Erlernen von Fremdsprachen eine "wichtige Ressource". Dieser Einschätzung widerspricht die Präsidentin des Luzerner Lehrerverbands Annamarie Bürkli, die gleichzeitig im Komitee für eine Fremdsprache auf der Primarschule im Kanton Luzern sitzt. Für Urs Kalberer ist der Widerstand gegen die Fremdsprachen auch Ausdruck eines Aufstandes gegen die Bildungsbürokratie.



"Wenn wir uns jetzt nicht wehren, ist der Zug abgefahren." Bild: Patrick Gutenberg

"Viele Kinder sind überfordert", Sonntagszeitung, 19.1. von Balz Spörri



Eigentlich schien die Sache längst gegessen: Alle Kinder in der Schweiz lernen in der Primarschule zwei Fremdsprachen, die erste spätestens ab der dritten Klasse, die zweite spätestens ab der fünften. So steht es in der Sprachenstrategie der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) von 2004.
Doch jetzt droht das sogenannte Modell 3/5, bevor es überhaupt umgesetzt worden ist, zu scheitern. In mehreren Kantonen wurden in den letzten Monaten politische Vorstösse eingereicht, die verlangen, dass auf der Primarstufe nur noch eine Fremdsprache unterrichtet wird. «Wir glauben nicht mehr an eine erfolgreiche Umsetzung des Fremdsprachenkonzepts», sagt Annamarie Bürkli, Primarlehrerin in Eschenbach LU und Präsidentin des Luzerner Lehrerinnen- und Lehrerverbands. Bürkli ist Co-Präsidentin eines breit abgestützten Komitees, das Ende September die kantonale Volksinitiative «Eine Fremdsprache auf der Primarstufe» lanciert hat. Die Unterschriftensammlung läuft.
Es wäre gescheiter, Deutsch zu stärken
In Graubünden wurde Ende November die Initiative «Nur eine Fremdsprache in der Primarschule» mit 3700 beglaubigten Unterschriften eingereicht. Voraussichtlich 2015 kommt die Vorlage vors Volk. In den Kantonsparlamenten von Thurgau, Basel-Landschaft und Schaffhausen sind Vorstösse hängig, die ebenfalls nur eine obligatorische Fremdsprache fordern. In Nidwalden und Zug muss der Regierungsrat das Fremdsprachenkonzept umfassend evaluieren lassen. «Es brodelt überall», sagt Urs Kalberer, Sekundarlehrer in Landquart GR und einer der prominentesten Kritiker von zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe. Wie umstritten das Modell 3/5 ist, zeigte auch die gerade abgeschlossene Konsultation zum Lehrplan 21: Die SVP möchte den Fremdsprachenunterricht auf die Oberstufe verlegen. Der Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), der rund 50 000 Lehrkräfte vertritt, hält in seiner Stellungnahme fest: «Zwei obligatorische Fremdsprachen sind zu viel.» Falls sich die Bedingungen nicht besserten, soll die zweite Fremdsprache nur noch als Wahlpflichtfach unterrichtet werden.
Die Kritik am Modell 3/5 ist grundlegend: Viele Kinder, so wird moniert, seien mit zwei Fremdsprachen überfordert. Statt die Kinder spielerisch an die Sprachen heranzuführen, müssten die Lehrkräfte Noten geben, die beim Übertritt in die Sekundarstufe zählten. Es wäre gescheiter, Deutsch und die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer zu stärken. Und: Das frühe Fremdsprachenlernen bringe viel Aufwand, aber wenig Ertrag.
«Rund 20 bis 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind mit zwei Fremdsprachen überfordert», sagt die Luzerner Primarlehrerin Annamarie Bürkli. Statt sie zu zwingen, ab der fünften Klasse eine zweite Fremdsprache zu lernen, wäre es besser, wenn sie ihre Ressourcen anderswo einsetzen könnten. «Heute straft man diese Kinder ab und verleidet ihnen die Schule.»
Andrea Haenni Hoti kontert die Kritik: «Die Mehrheit der Primarschüler kommt mit zwei Fremdsprachen gut zurecht», sagt die Professorin für Bildungs- und Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Haenni Hoti hat die bislang umfangreichste Studie zum Thema durchgeführt. Sie verglich 2009 die fremdsprachlichen Kompetenzen von rund 550 Innerschweizer Schülern, die nach dem Modell 3/5 unterrichtet wurden, mit 370 Luzerner Kindern, die an der Primarschule nur eine Fremdsprache gelernt hatten. Geprüft wurde auch die Lesekompetenz in Deutsch.
«Die grosse Mehrheit der Schüler erfüllt die Lernziele», sagt Haenni Hoti. Drei Viertel der Kinder, so zeige die Studie, würden bis Ende der Primarschulzeit die erwünschte Lesekompetenz in Englisch erreichen oder übertreffen, und auch die Leistungen in Französisch würden den Erwartungen entsprechen. Haenni Hoti räumt ein, dass gewisse Kinder mit zwei Fremdsprachen Mühe hätten. Diese Kinder müsse man gezielt fördern. «Das bedeutet indes nicht, dass deswegen alle Primarschüler auf den Erwerb einer zweiten Fremdsprache verzichten müssen.»
Die Bildungsforscherin betont, dass die Deutschkompetenzen der Kinder keineswegs unter dem Fremdsprachenunterricht leiden würden, wie dies die Kritiker des Modells 3/5 gern ins Feld führen. Falsch sei auch das Vorurteil, dass vor allem Kinder mit Migrationshintergrund von zwei Fremdsprachen überfordert seien. Migrationssprachen seien für das Erlernen von Fremdsprachen vielmehr eine «wichtige Ressource».
Allerdings: Ob das Modell 3/5 besser ist als das Modell 3/7, bei dem die zweite Fremdsprache erst in der Oberstufe unterrichtet wird, ist umstritten. «Der Nutzen des frühen Beginns wird überschätzt», sagt Urs Kalberer. In seiner Masterarbeit hat der Bündner Sekundarlehrer 2007 gezeigt, dass Schüler, die erst ab der 7. Klasse Englisch lernten, den Vorsprung der Kinder, die bereits in der Primarschule damit begonnen hatten, rasch aufholten. «Ältere Schüler weisen bessere Resultate auf als jüngere, wenn sie gleich viele Lektionen besucht haben», sagt Kalberer, der selbst Englisch unterrichtet.
Kritik von Eltern und Lehrkräften
Die Kritik am Modell 3/5 kommt vor allem von Lehrkräften und Eltern. Vertreter der Pädagogischen Hochschulen (PH) und Bildungspolitiker beurteilen die Einführung des frühen Fremdsprachenunterrichts weitaus positiver. «Alles in allem ist sie gut unterwegs», meint EDK-Präsident Christoph Eymann (siehe Interview). Kritiker wie Urs Kalberer betrachten die Vorstösse gegen zwei Fremdsprachen deshalb auch als «Aufstand gegen die Bildungsbürokratie». Die EDK, so Kalberer, verschliesse die Augen vor der Realität und glaube einzig den PH-Vertretern. Die Lehrer dagegen, die «mit ihren Klassen am Berg stehen», hätten das Vertrauen in die PH-Leute verloren.

In Luzern hofft man jetzt auf ein «schweizweites Umdenken», bevor der Lehrplan 21 eingeführt wird. Denn damit würden endgültig zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe festgeschrieben, sagt Annamarie Bürkli. «Wenn wir uns jetzt nicht wehren, ist der Zug abgefahren.»

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