26. Januar 2014

Frühe Einschulung und ihre Schattenseiten

Die frühe Einschulung - Kindergärtler mit vier Jahren - sorgt dafür, dass sich bereits 13-Jährige für einen Beruf entscheiden müssen. All dies wurde bei den Harmos-Abstimmungen unter den Tisch gekehrt. Nun zeigt sich, dass sich die Zahl der Lehrabbrüche häuft.




Eltern wollen Kinder nicht früh in den Kindergarten schicken, Bild: Orlando

Junge kommen früher aus der Schule - mehr Lehrabbrüche befürchtet, Der Bund, 24.1. von Adrian Schmid


In diesen Tagen werden vielerorts die Anmeldeformulare für den Kindergarten verschickt. Seit dem letzten Jahr gilt im Kanton Bern – im Zuge der Umsetzung des Schulharmonisierungskonkordats Harmos – das zweijährige Kindergartenobligatorium. In allen Gemeinden müssen bereits die Vierjährigen den Unterricht besuchen. Die Eltern haben allerdings die Möglichkeit, ihr Kind ein Jahr später in den Kindergarten zu schicken – ohne einen grossen bürokratischen Aufwand auf sich nehmen zu müssen. Wie eine Umfrage des «Bund» im letzten November in den Gemeinden der Region Bern zeigte, bewegte sich der Anteil der Kinder, die auf das Schuljahr 2013/14 von ihren Eltern noch zurückgehalten wurden, im Durchschnitt bei acht Prozent. Vor allem Eltern von Kindern, die in ihrer Entwicklung noch zu wenig weit waren, haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.
Jetzt, wo die Anmeldungen für den zweiten «Harmos-Jahrgang» anstehen, machen sich wie vor Jahresfrist viele Eltern Gedanken darüber, ob ihr Nachwuchs wirklich bereit ist für den Kindergarten. In Elternkreisen wird rege darüber diskutiert. Dabei ist ein neues Argument aufgetaucht: Der «Bund» weiss von Eltern, die ihr Kind nicht in den Kindergarten schicken wollen, weil sie finden, es werde dadurch zu früh mit der Schule fertig sein respektive zu früh in die Berufswelt eintreten.
Momentan wird das Stichdatum für den Kindergarteneintritt schrittweise vom 30. April auf den 31. Juli nach hinten verschoben – massgebend ist das Geburtsdatum des Kindes. Bis 2015 müssen alle Gemeinden im Kanton Bern auf Ende Juli umgestellt haben. Inklusive Kindergarten beträgt die Schulzeit nunmehr elf Jahre. Im Extremfall heisst das Folgendes: Ein Kind, das am 31. Juli Geburtstag hat und vierjährig in den Kindergarten eintritt, beginnt elf Jahre später, ein paar Tage nach seinem 15. Geburtstag, mit der Lehre. Und: Es muss sich schon mit 13 Jahren festlegen, welchen Beruf es ausüben will. Denn der Berufswahlentscheid ist gemäss heutigen Vorgaben im Verlaufe der achten Klasse vorgesehen, wie es bei der kantonalen Erziehungsdirektion heisst.
Bau: 10 Prozent Lehrabbrüche
Ein Lehrbeginn mit 15 Jahren ist rein rechtlich möglich. Gemäss dem Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel gilt das generelle Arbeitsverbot für Jugendliche bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres. Bei 14-Jährigen können Ausnahmen gemacht werden: Sie brauchen eine Bewilligung des Kantons, damit sie in die berufliche Grundbildung aufgenommen werden können. Gefährlich Arbeiten sind für Jugendliche bis 18 Jahre verboten.
Kurt Münger, Bereichsleiter Bildung beim Kantonal-Bernischen Baumeisterverband, findet es dennoch zu früh, wenn bereits 15-Jährige eine Lehre beginnen. «Ich befürchte, dass es in Zukunft mehr Lehrabbrüche geben wird.» Derzeit werden auf dem Bau schweizweit rund zehn Prozent der Lehren nicht beendet.
Anders tönt es bei Sonja Morgenegg-Marti, Direktorin der Gewerblich-Industriellen Berufsschule Bern (Gibb). Sie glaubt, dass die frühere Einschulung der Kinder «tendenziell keine Auswirkungen» auf die Gibb haben wird. Sie kann sich höchstens vorstellen, dass die Lehrkräfte in den Bereichen Disziplin und Pädagogik «mehr gefordert» sein werden. An der Gibb gibt es schon heute Schüler, die beim Eintritt 15 Jahre und ein paar Monate alt sind.
Schwierige Berufswahl
«Mit 13, 14 Jahren kann man einem Jugendlichen nicht zumuten, reife Berufsentscheide zu treffen», sagt derweil August Flammer, emeritierter Professor für Entwicklungspsychologie aus Bolligen. Er spricht von «Zufallsentscheiden». In diesem Alter würden Jugendliche grosse Entwicklungssprünge machen. Die Berufswahl sei heute ohnehin schwierig – aufgrund der vielen Möglichkeiten, die sich böten. Dies werde aber abgefedert, da man nicht mehr das ganze Leben lang den gleichen Beruf ausübe. Im früheren Schulaustritt sieht Flammer allerdings auch einen Vorteil für Jugendliche, bei denen sich noch vor Beendigung der Schulzeit der Verleider einstelle. Er erwähnt in diesem Zusammenhang das sogenannte School-drop-out-Phänomen aus den USA, wo die Jugendlichen bis 18 zur Schule gehen und es immer wieder solche gibt, die schon vorher abhauen.
Eltern sollen gelassen bleiben
«Für gewisse Berufe ist ein Schulaustritt mit 15 Jahren tatsächlich früh», sagt Erwin Sommer, Vorsteher des kantonalen Volksschulamtes. Es gebe aber bereits Kantone, welche die Lehre ab 15 kennen. «Im Tessin funktioniert es.» Den Eltern, die sich jetzt überlegen, das Kind ein Jahr später in den Kindergarten zu schicken, rät Sommer, gelassen zu bleiben. «Es ist schwierig zu sagen, wo ein Kind mit 14 Jahren stehen wird.» Zuerst sollten die Eltern schauen, wie sich das Kind entwickle. Wenn dann die Berufswahl anstehe, seien individuelle Lösungen möglich. Jugendliche, die mehr Zeit benötigten, bekämen diese auch. Im Weiteren betont Sommer, dass das Bildungssystem «sehr durchlässig» sei. Mit einer Berufsmaturität sei der Gang an eine Fachhochschule möglich. Via Passerelle-Ergänzungsprüfung könnten Berufsmaturanden auch an eine Universität gelangen.

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