11. Dezember 2013

Ökonomische Fiktion als Basis für Bildung

Pisa und seine Ergebnisse entscheiden darüber, wie künftige Generationen gebildet werden. Ein Mass soll die Fähigkeiten und Fertigkeiten, neudeutsch: Kompetenzen, von Schülern in über 30 Ländern vergleichen und bewerten. Dabei bekannte bereits Pisa 2000 offen, dass sich dieses Mass nicht an den Bildungstraditionen, Verfassungen und Richtlinien der vermessenen Länder orientiere. Vielmehr liege den Testungen ein eigenes Konzept mit normativer Wirkung zugrunde: Lehrer, Schulen und ganze Bildungssysteme sehen sich weltweit in ein einziges Schema gezwungen, nach dessen Kriterien sie allein Exzellenz erlangen sollen. So ist nach der Veröffentlichung von Pisa zu fragen: Was sind eigentlich die Kritierien dieser Messungen? Und wer hat Macht, über deren "Richtigkeit" zu bestimmen?
Quelle: Anpassung an eine Scheinwelt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.12. von Silja Graupe und Jochen Krautz

Diese Fragen führen unmittelbar zu der für den Pisa-Test verantwortlichen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts nach eigenen Angaben "eine zentrale Rolle bei der Bereitstellung von Indikatoren zu Bildungs-leistungen" spielt und damit "die staatliche Bildungspolitik nicht nur
bewerten, sondern auch zu ihrer Gestaltung beitragen" will. In Peer-Reviews wie Pisa sieht die OECD den "effizienteste(n) Weg, Einfluss auf das Verhalten souveräner Staaten auszuüben", wohl wissend, dass ihr dieser Einfluss nicht zusteht. Den Plan hierzu fasste sie im Jahre 1961 bei einer in Washington einberufenen Konferenz "Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand". Deren Ergebnisse wurden sodann, wie die Kulturkommission des Europarates ohne jede Kritik feststellt, zum unmittelbaren "Gegenstand der Beratung der nationalen Ministerien und Parlamente. Sie wurden außerdem stark bestimmend für die gesamte öffentliche Erörterung pädagogischer und bildungspolitischer Probleme. Es ist selten, dass eine Konferenz so sichtbar die Politik vieler Länder verändert." Ausdrücklich ging es bei der Konferenz nicht um Maßstäbe, die den Bildungstraditionen der jeweiligen Länder gerecht
würden. Das neue Maß war umgekehrt darauf angelegt, alle tradierten Vorstellungen außer Kraft zu setzen. So heißt es im Bericht zu der genannten Konferenz, es ginge im Hinblick auf die Entwicklungsländer um nichts weniger, "als dass Millionen Menschen von einer Lebensweise losgerissen werden sollen, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden das Lebensmilieu aus-machte". Alles, was bisher an Schule und in der Erziehung in diesen Ländern
geleistet wurde, habe soziale und religiöse Ziele verfolgt, die vorwiegend "Resignation und spirituelle Tröstung gewährten; Dinge, die jedem wirtschaft-lichen Fortschrittsdenken glatt zuwiderlaufen". Diese jahrhundertealten Einstellungen zu verändern sei vielleicht die schwerste, aber auch die vordringlichste Aufgabe der Erziehung in den Entwicklungs-ländern. Wohlgemerkt zählt die OECD dabei auch die Nationen Europas zu ebendiesen Entwicklungsländern. So bezeichnet sie gerade Deutschland, "mit seiner dezentralisierten Schulverwaltung (. . .), was die Erziehungsplanung angeht, auch als ein etwas unterentwickeltes Land". Folglich geht es darum, auch Deutschland bei der Bildung einer kulturellen Entwurzelung zu unterziehen.
Das OECD-Programm sagt der gewachsenen Pluralität von Bildungszielen und Diskursen, die diese Ziele beständig reflektierten und erneuerten, den Kampf an, um sie durch eine einzige, neuartige Vorstellung zu ersetzen: "In der Schule soll jener Grundsatz von Einstellungen, von Wünschen und von Erwartungen geschaffen werden, der eine Nation dazu bringt, sich um den
Fortschritt zu bemühen, wirtschaftlich zu denken und zu handeln." Der Mensch soll nicht mehr lernen, sich in Verantwortung für die Gemeinschaft seine eigenen Maßstäbe zu setzen. Zum Ziel der Bildung wird vielmehr die "Befähigung zu immer neuer Anpassung", und zwar Anpassung an die abstrakten Erfordernisse der Wirtschaft. So heißt es 1961 in unmiss-verständlicher Offenheit: "Heute versteht es sich von selbst, dass auch das
Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken." So könne, "ohne zu erröten und mit gutem ökonomischen Gewissen", behauptet werden, "dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar - auf lange Dauer vielleicht sogar überlegen - ist".
Genau diese Humankapitaltheorie vertritt die OECD bis heute. So heißt es 2007 in einer OECD-Schrift, "individuelle Fähigkeiten" würden als "Form des Kapitals" gelten, die wie "ein Produktionsfaktor, wie ein Spinnrad oder eine Getreidemühle, einen Ertrag bringen" können. Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit gilt der OECD heute sogar als Schlüsselkompetenz. Daher fragt auch die sogenannte literacy, also jene Lesekompetenz, die heute bereits deutschen Bildungsstandards zugrunde liegt, vor allem danach, wie Menschen Informationen nutzen, um "in der Gesellschaft und der Wirtschaft zu funktionieren".
Bei allem Dissens über Bildungsfragen gerade in der deutschen Diskussion war vor Pisa unbestritten, dass Bildung mit Anpassung nichts zu tun hat, im Gegenteil. Zudem widerspricht eine solche Auffassung dem Grundanspruch an Bildung in einem demokratischen Rechtsstaat, zur Mündigkeit zu befähigen, und damit auch dem Bildungsauftrag, wie ihn die Länderverfassungen in Deutschland normieren. Die OECD aber erhebt nun genau jene Anpassung an eine äußere Umwelt zum Maß allen Bildungserfolges. 
Doch damit nicht genug. Denn es handelt sich bei der Umwelt, an die Schüler sich anpassen sollen, nicht um die reale und erfahrbare Welt der Wirtschaft, sondern um eine bloße Idealvorstellung, wie sie Ökonomen der Chicago School of Economics schufen und auf die Bildung anwandten: die Vorstellung des Marktes als eines rein abstrakten, überbewussten Preis- und Koordinations-mechanismus, an dem sich alles menschliche Handeln ausrichten soll. Im Umkehrschluss verhindert diese wirklichkeitsferne Setzung jegliche Kritik und Willen zur Veränderung, denn sie wird in der Öffentlichkeit eben nicht als theoretisches Konstrukt aufgefasst, sondern "von den meisten Menschen als unmittelbar einleuchtende Wahrheit angesehen", wie der Neoliberale August Hayek schreibt. Ob wahr oder falsch: Ökonomische Theorien und alle Messungen, die wie Pisa auf ihnen beruhen, prägen Wirklichkeit, weil sie
unreflektiert zum handlungsleitenden Maßstab erkoren werden. Solange Menschen daran glauben, dass ein einfaches Mehr an Pisa-Punkten besser sei als weniger, um am Markt erfolgreich zu sein, werden sie alles daransetzen, dieses Mehr zu erlangen. Bildung beugt sich unreflektiert der Kraft des vergleichenden Maßes, selbst wenn dieses auf reinen Behauptungen beruht.

Wie die OECD 2011 selbst zugibt, spielen die Pisa-Indikatoren "eine zunehmend einflussreichere Rolle. Indikatoren lenken das Interesse auf nach internationalen Vergleichsmaßstäben schwache Bildungsergebnisse und können so Veränderungen bewirken." Der Maßstab misst nicht nur Realität; er erschafft seine eigene Wirklichkeit, obwohl die beobachtbaren Zusammen-hänge zwischen Pisa-Fortschritt und tatsächlicher Bildungsleistung
stets schwach geblieben sind, wie die OECD selbst immer wieder zugibt.

Lehrer und Schüler spüren längst die Konsequenz, dass sich Pädagogik aus den Schulen verflüchtigt und der Herrschaft des distanzierten Diagnostizierens und Evaluierens Raum gibt. Die zwischengeschaltete Scheinwelt der Pisa-Messung entfremdet sie von den eigenen kulturellen Wurzeln und zerstört die zwischenmenschliche Basis des pädagogischen Geschehens. Die unmittelbaren Erfahrungen der pädagogischen Praxis verlieren an Bedeutung für die Gestaltung von Bildung, eben weil die Aufmerksamkeit von Politik, Öffentlich-keit und auch Erziehungswissenschaft auf statistische Scheinwelten gebannt bleibt. Die Kunst, über inszenierte Scheinwelten die öffentliche Meinung zu beeinflussen, nannte Edward Bernays, der Erfinder moderner PR, noch bei ihrem ursprünglichen Namen: Propaganda.
Dabei liegt die unheimliche Macht des Messens letztlich nicht im Ergebnis. Unabhängig davon, was Pisa genau misst, und gleichgültig, ob gute oder schlechte Ergebnisse produziert werden, liegt die Macht in den Prozessen des Messens und Gemessenwerdens selbst. Denn diese gewöhnen Menschen daran, geistlos allein zwischen einem Mehr und einem Weniger zu
unterscheiden, ohne je wirklich nach Bildungsqualitäten zu fragen. Sie machen fit für eine Welt, in der alles nur nach Wachstum strebt und sich Erfolg an reinen Quantitäten bemisst. Nun hat die Welt wieder gebannt auf die Scheinwelt von Pisa geschaut. Wieder werden Länder unter dem Eindruck des inszenierten "Schocks" stehen, so dass "zügig eine nach vorn gerichtete Reaktion" erfolgt, die ohne weiteres Nachdenken die alltägliche Welt der Schüler und Lehrer erneut auf den Kopf stellt. Es ist an der Zeit, diesem Plan der kulturellen Entwurzelung, der Bildung, Demokratie und eben auch die reale Wirtschaft untergräbt, Einhalt zu gebieten. Wem soll ein Bildungssystem, das sich an der Scheinwelt von Pisa orientiert, überhaupt nützen?

Silja Graupe lehrt Ökonomie und Philosophie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft sowie der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte; Jochen Krautz lehrt Kunstpädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal.

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