20. Dezember 2013

Integrieren, bis die Polizei kommt

An einer Zürcher Schule ist die gespannte Situation um einen verhaltensauffälligen Buben erneut eskaliert. Der Junge zeigte einen Handyfilm herum, die Schulleitung rief die Polizei.




Wie weit sollen auch schwierige Schüler integriert werden? Bild: Martin Rütschi

Integrieren, bis die Polizei kommt, Tages Anzeiger, 20.12. von Michèle Binswanger


Im Sommer griff der «Tages-Anzeiger» den Fall des verhaltensauffälligen Schülers Sandro auf, der in eine fünfte Klasse in einer Zürcher Schuleintegriert werden sollte.
Sandro (Name geändert) hat eine unklare Diagnose. Er leide an einer «Störung aus dem Autismusspektrum», habe ein Tourette-Syndrom und eine schwere Aufmerksamkeitsstörung, so wurden die Eltern informiert. Nach einigen Monaten erhoben einzelne Eltern Vorwürfe. Der Junge störe den Unterricht stark, beschimpfe Lehrer und Mitschüler ungestraft, für ihn gälten keine Regeln. Es sei zudem zu sexuellen Übergriffen auf Mitschülerinnen gekommen. Die Eltern kritisierten das Setting und verlangten, die Integration zu überprüfen. Weil es im Konflikt zwischen Eltern und Schulleitung nicht zur Einigung kam, nahmen verschiedene Eltern ihre Kinder aus der Schule. Schulpräsident Urs Berger hielt nach einer Überprüfung durch externe Experten aber auch nach den Sommerferien an der Integration von Sandro fest. Einen Rekurs der Eltern gegen Sandros Platzierung in der Regelklasse lehnte die Schulpflege ab.
Die Eltern protestieren erneut
Nun ist die Situation erneut eskaliert. Eine Mutter beschwerte sich Anfang Dezember bei der nach den Sommerferien neu eingesetzten Schulleitung, Sandro habe zusammen mit einem anderen Schüler auf dem Pausenplatz Filme mit sexuellen Handlungen gezeigt. Zudem soll er Mitschülerinnen fotografiert und die Bilder im Internet mit diffamierenden Kommentaren veröffentlicht haben. Die neue Schulleitung schaltete darauf die Polizei ein.
Eine Überprüfung der Filme ergab laut Polizeisprecher Marco Cortesi, dass das Material «strafrechtlich nicht relevant» sei. Tatsächlich handelte es sich um ein Video der News-Plattform «20 Minuten», auf dem ein nackter Mann sich dabei filmt, wie er «Guete Morge mitenand» singt. Dennoch wurde Sandro «zur weiteren Abklärung» einstweilig vom Unterricht dispensiert. Schulpräsident Urs Berger informierte die Eltern in einem Schreiben, dass bei den betroffenen Schülern «Kurzvideos mit sexuellen Inhalten» gefunden worden seien.
Man werde nun Schülerinnen und Schüler auf die «negativen Konsequenzen aufmerksam machen, die ein fahrlässiger Umgang mit Handys mit sich bringen kann.» Dem TA erklärte er in einem E-Mail: «In Bezug auf die Weiterschulung des Jungen bereiten wir zusammen mit den Fachstellen seine Rückkehr in die Klasse vor. Aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes kann ich nicht mehr dazu sagen.»
Eltern betroffener Kinder monierten darauf erneut, dass die integrative Schulung für Kinder mit Problemen wie Sandro nicht geeignet sei. Erstens fehlten der Schule die fachlichen und organisatorischen Mittel, zweitens werde der Klassenlehrer von der Zuwendung, die Sandro ihm abfordere, zu stark absorbiert, drittens sähen sie die sexuelle Integrität ihrer Kinder gefährdet.
Nach der Berichterstattung des TA hatte das Volksschulamt aus der Bildungsdirektion von Regierungsrätin Regine Aeppli (SP) im Juni einen Fachspezialisten der Abteilung Sonderpädagogisches und eine externe Expertin in Sandros Klasse geschickt, um die Bedingungen seiner Integration zu überprüfen. Dies auch, weil einige Eltern Ende Mai eine Aufsichtsbeschwerde bei der Bildungsdirektion eingereicht hatten.
Am 3. Juli fand ein Vermittlungsgespräch zwischen Elternvertretern und dem Zürcher Volksschulamt statt. Anwesend waren neben den Elternvertretern Sandros Vater, die Schulleitung, der Klassenlehrer, Schulpräsident Urs Berger, der Leiter der Abteilung Sonderpädagogisches, Urs Meier, und der Spezialist des Volksschulamts. Ein Protokoll des Gesprächs liegt dem TA vor. Darin spricht der Klassenlehrer von einem «brutalen Stress im vergangenen Halbjahr», erzeugt durch den Konflikt um den Integrationsversuch.
Der externe Fachmann äussert sich dahin gehend, dass der Integrationsversuch von Sandro in die Regelklasse aus dem Studium der Akten «nicht unmittelbar nachvollziehbar» sei. Inzwischen wisse er aber mehr über den Fall, die Integration sei ein Versuch, «Lösungen zu finden». Er hielt auch fest, dass er keine Gefährdung anderer Kinder beobachten konnte.
Eigener Computer mit Internet
Der Spezialist schätzte das bestehende Setting aber als nicht ausreichend ein. Es sei schlecht, dass es fast ausschliesslich auf der guten Beziehung des Klassenlehrers zu Sandro beruhe. Er empfehle eine Verstärkung um acht bis zwölf zusätzlich betreuten Stunden, mindestens aber fünf. Elternvertreter hatten im Konflikt immer wieder moniert, Sandro werde bevorzugt. So verfüge er in der Stunde über einen eigenen Computer mit Internetanschluss, auf dem er tun könne, was er wolle. Der Spezialist empfahl für Sandro ein stärkeres Setting von strikten Regeln. Ansonsten bestehe eine Gefährdung für ihn selbst.
Diese Einschätzung, so teilte Martin Wendelspiess, Chef des Zürcher Volksschulamtes, mit, sei entscheidend für die Behandlung der Aufsichtsbeschwerde. Diese ist bis heute hängig, der Integrationsversuch wird fortgesetzt. Aus Spargründen wurden laut einem Brief von Schulpräsident Urs Berger nach den Sommerferien nur vier zusätzlich betreute Stunden angeordnet. Der Konflikt zwischen Eltern und Schule schwelt weiter, die Akte Sandro umfasst inzwischen über 74 Einträge.
Die integrative Schulung steht seit ihrer Einführung in der Kritik. Diese Woche vermeldete die «NZZ am Sonntag», dass Zürcher Lehrer eine Rückkehr zum alten System mit den Kleinklassen forderten und dabei Überforderung und fehlende Finanzen geltend machen. Auch für Christoph Eymann, Präsident der Erziehungsdirektoren-Konferenz, ist die integrative Förderung eine «grosse Baustelle», die viele Schulen an den Rand der Belastbarkeit bringe.
Das Volksschulgesetz verlangt die Integration, «wenn möglich»; die Stadt Zürich hat alle Kleinklassen aufgehoben.

1 Kommentar:

  1. Hier scheint es sich offensichtlich um eine Kampagne zu handeln, die von einzelnen Eltern angefacht und vom Tages-Anzeiger bereits zum zweiten Mal kolportiert wurde. Dabei werden die berechtigte Kritik an der Total-Integration mit ungeprüften Anschuldigungen und Diffamierungen gegen Schulverantwortliche vermischt - die so an den öffentlichen Pranger gestellt werden - , die gar nicht für die Schulreformen verantwortlich sind.

    Wie sehr die Stimmung – wegen der Tagi-Kampagne – inzwischen aufgeheizt ist, zeigt, dass die Behauptung einer (!) Mutter, Sandro habe „Filme mit sexuellen Handlungen“ gezeigt, zur Einschaltung der Polizei genügte. Interessant ist, dass die Polizei dann feststellte, dass es sich um einen Video der News-Plattform „20 Minuten“ handelte, die bekanntlich dem Tages-Anzeiger gehört!

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