24. November 2013

Niemand weiss, wohin die Reise geht

Mit dem Lehrplan 21 begibt sich die Schweizer Schule auf eine abenteuerliche Reise, von der niemand weiss, wo sie enden wird. Die Widersprüche zeigen sich schon im Grundsätzlichen: 21 Kantone geben sich einen gemeinsamen Lehrplan und wollen gleichzeitig ihre Souveränität bewahren. Die Einigkeit ist bereits bei der Frage, mit welcher Fremdsprache begonnen werden soll, vorbei. Die Ausrichtung an "Kompetenzen" wird ein teures Heer von Spezialisten hervorbringen, die dann in ihren teuren Berichten Belanglosigkeiten feststellen werden. So werden wir dann klipp und klar erfahren, dass in bestimmten Schulen die Lernziele erreicht oder nicht erreicht wurden. Nicht mehr und nicht weniger. Dagegen wehren sich jetzt nicht nur namhafte Erziehungswissenschafter, sondern auch Lehrer haben die Initiative ergriffen. Sie verlangen, dass die Karten auf den Tisch gelegt werden. Schluss mit dem Lobbying hinter verschlossenen Türen, die Schule gehört uns allen und nicht bloss den bezahlten Funktionären des Staates und der Verbände. 
Diese Woche hat der Schweizer Lehrerverband LCH seine Position am Lehrplan 21 veröffentlicht. Diese fiel deutlich und kritisch aus. Der Dachverband von 33 Lehrerorganisationen stellt sich zwar grundsätzlich hinter das Werk, welches die Bildung in der Volksschule aller 21 deutschsprachigen Kantone harmonisieren soll. Er sei jedoch überladen und schwer verständlich. Schwächere Schüler könnten überfordert werden. Der LCH fordert unter anderem klare Mindestansprüche an die Schüler, weniger Kompetenzziele sowie nur eine obligatorische Fremdsprache in der Primarschule.
Für eine Gruppe von Lehrern um den Bieler Alain Pichard hat der Dachverband zu wenig deutliche Worte gewählt. «Der Verband ist viel zu wenig kritisch», sagt Pichard. Der einst grüne und nun grünliberale Bieler Stadtparlamentarier hatte sich vor einigen Jahren als linker Kritiker der Bildungsbürokratie einen Namen gemacht. Vor rund zehn Jahren organisierte er die Opposition gegen die neue Schülerbeurteilung «Schübe» im Kanton Bern mittels aufwendigem Bewertungssystem. Rund 3000 Lehrer unterstützten «Schübe halt!» und brachten das System zu Fall.
Nun schwebt dem streitbaren Lehrer auf nationaler Ebene Ähnliches vor. Er hat ein Memorandum gegen den Lehrplan aufgesetzt und will dieses breit abstützen. «Das monumentale Regelwerk schrammt an der Praxis vorbei», kritisiert Pichard den Lehrplan. Auf 550 Seiten werden mehrere tausend Kompetenzen aufgelistet, die die Kinder während der obligatorischen Schulzeit erwerben sollten. Überfordert würden nicht nur Schüler und Lehrer, sondern auch die öffentlichen Finanzen. «Hier werden einmal mehr Weichen gestellt, ohne dass die Konsequenzen absehbar sind», sagt Pichard. Er möchte, dass «nochmals bei null begonnen wird».
Pichard hat das Netzwerk seiner Berner Gruppe reaktiviert und weiter ausgebaut. Unterstützt wird er unter anderem von Sekundarlehrer Urs Kalberer aus Landquart (GR), welcher den reformkritischen Internetblog «Schule Schweiz» betreibt. Sukkurs kommt auch vom Basler SP-Grossrat und Gymnasiallehrer Daniel Goepfert. Ihn stört die Kompetenzorientierung des Lehrplans. «Ich mache mir Sorgen um die Bildung der Schülerinnen und Schüler», sagt Goepfert. Wenn kein Fachwissen mehr vorgeschrieben werde, dann könne er auch nicht darauf aufbauen.
Ähnlich argumentiert der ehemalige Zürcher EVP-Kantonsrat und Bildungsrat Hanspeter Amstutz: «Die Kompetenzen müssen an Inhalte festgemacht werden und in einfacher und verständlicher Form den Hintergrund des Lernens bilden», sagt Amstutz. Allerdings stehe er nur teilweise hinter dem Memorandum.
Und Sekundarlehrer Andreas Aebi aus Langnau (BE) sagt: «Als Praktiker benötige ich einen kurzen, klaren, lesbaren Rahmenlehrplan, in welchem die wichtigsten gemeinsamen Unterrichtsinhalte verbindlich festgelegt sind.» Bis zum 9. Dezember will Pichard das Memorandum von 550 Lehrern unterzeichnet haben und veröffentlichen.
Beat Zemp, Präsident des LCH, nimmt die Kritik von Pichards Gruppe gelassen. Der Dachverband müsse die Rückmeldungen aller Stufen und Regionen berücksichtigen. «Das ergibt logischerweise eine weniger pointierte Stellungnahme», sagt Zemp. Mit seinen zehn Forderungen habe der LCH indes klar aufgezeigt, wo der Lehrplan verbessert werden müsse. «Mit Fundamentalkritik und einem Memorandum mehr kommen wir keinen Schritt weiter», so Zemp.
Er setzt auf Zusammenarbeit, zumal sich abzeichnet, dass die Bedenken der Lehrerinnen und Lehrer bei der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz D-EDK ernst genommen werden. Schon letzte Woche sagte der Schaffhauser Erziehungsdirektor und Präsident der D-EDK, Christian Amsler, man würde nochmals über die Bücher gehen, «sollte sich zeigen, dass der Lehrplan überladen ist». Er könne sich eine Aufteilung in A- und B-Stoffe vorstellen. Auch der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver zeigt sich diskussionsbereit: «Es kann sein, dass der Lehrplan zu engmaschig ist.» Allerdings habe er auch viele positive Rückmeldungen von Lehrern erhalten, sagt Pulver.
Quelle: Die Basis muckt auf, NZZaS 24.11. von René Donzé

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