2. Oktober 2013

Chancengerechtigkeit als Fata Morgana

Mögen Sie Aufnahmeprüfungen? Wenn ja, dann wird es Sie freuen zu lesen, dass eine Schweizer Studie kürzlich festgestellt hat, Prüfungen seien gerechter als andere Selektionsverfahren wie zum Beispiel die Zuteilung durch die Primarlehrerin aufgrund einer ganzheitlichen Beurteilung.
Wenn der Schulratspräsident zum Einstufungsgespräch erscheint, ist es halt doch anders, als wenn dort die alleinerziehende Mutter mit ihrem Sohn aufkreuzt. Unser sogenannt «ganzheitliches» Beurteilungssystem lässt Tür und Tor offen für objektiv nicht nachweisbare Begünstigungen und Klüngeleien. Das bleibt im Bewusstsein hängen. Gerade Leute mit tiefem Bildungsstand vertrauen eher einer Prüfung als dem Urteil einer Lehrperson. Die Forderung zur Abschaffung der Aufnahmeprüfungen kommt aus dem Lager der Akademiker. Gut situierte Eltern wissen: Ein Lehrerurteil lässt sich eben besser zurechtbiegen als die Punktezahl einer Prüfung.
Die erwähnte Studie zeigt, dass die Betroffenen die Prüfung als Beitrag zur Chancengerechtigkeit sehen. Doch auch bei den Aufnahmeprüfungen hält man nicht nur in Graubünden den Privilegierten ein Türchen offen. Nicht die klügsten, sondern die reichsten Kinder schaffen es ins Gymnasium. Die Zahl der Gymnasiasten korreliert stark mit den Bodenpreisen des Wohnorts. Konkret: Hohe Bodenpreise, viele Gymnasiasten. Tiefe Preise, wenig Gymnasiasten. Wer es sich leisten kann, besucht private Vorbereitungskurse und wird so auf die Prüfung gedrillt, dass diese dann auch bestanden wird. Dieses Vorgehen ist den Prüfungsverantwortlichen durchaus bewusst. An unseren Schulen herrscht aber noch immer die weitverbreitete Ansicht, dass es genüge, wenn die Schüler nur den behandelten Schulstoff beherrschten. Weit gefehlt – ohne klare Kenntnisse der zu absolvierenden Prüfung haben die Kandidaten keine Chance. Das ist wie beim Lauberhornrennen. Wer die Piste vorher besichtigen kann, ist schneller als jemand, der sie unvorbereitet runterfährt.

Nun stellt sich die berechtigte Frage, ob es nicht Aufgabe der Schule wäre, die Schüler optimal auf die weiterführenden Schulen vorzubereiten. Wenn man bedenkt, wie viel Geld in Stützmassnahmen für schwache Schüler hineingebuttert wird, wenn man sich die honigsüssen Leitbilder unserer Schule mit ihren Bekenntnissen zu individueller Förderung zu Gemüte führt, dann wäre es eigentlich naheliegend, dass unsere Schulen Prüfungskurse anbieten müssten. Hier besteht Handlungsbedarf und hier gilt es anzupacken, wenn man unsere Gesellschaft wirklich ein wenig fairer machen möchte.
Quelle: Urs Kalberer im Bildungsblog der "Südostschweiz", publiziert am 1.10.

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