«Komm
mal mit!», sagte mein Kollege, «du wirst staunen.» Tags darauf stand ich in
einem Raum mit 20 Kindern zwischen zehn und 13 Jahren, einer
«altersdurchmischten Lerngruppe» von der 4. bis zur 6. Primarklasse. Der «Tag
der offenen Tür» fand nicht etwa in der Gesamtschule Lindental (BE) statt, wo
mangels Kindern keine andere Art Unterricht möglich ist, sondern in einer
grossen Schweizer Stadt. Auf dem Stundenplan stand Französisch. Die Lehrerin
hatte ein Spiel vorbereitet, das ihr nur selten Gelegenheit bot, etwas zu
sagen. Dennoch war unverkennbar: Die Frau spricht gar nicht französisch,
jedenfalls nicht fliessend, nicht fehlerfrei und schon gar nicht so, wie man
die Sprache in den Strassen von Paris, Neuenburg oder Nyon spricht. Wie kann
man eine Sprache unterrichten, frage ich mich, die man gar nicht beherrscht?
Auf dem
Heimweg erfuhr ich mehr über die Erfahrungen meines Kollegen mit der Schule.
Erstens gehören 27 Kinder zur Lerngruppe, aber nie sind alle da. Legasthenie,
Dyskalkulie, feinmotorische Störungen, Lernschwächen, mangelnde
Deutschkenntnisse erfordern separate Betreuung, wofür Fachkräfte zur Verfügung
stehen. In dieser Zeit verpassen die Kinder, was die Kerngruppe lernt, was
offenbar in Kauf genommen wird. Die Lehrerin ist die dritte innert zwei Jahren,
alle drei sehr engagiert, aber zwei haben schon kurz nach ihrem Studium an der
Pädagogischen Hochschule wegen Überforderung aufgegeben.
Kaum
eine der Lehrpersonen hat noch ein 100-Prozent-Pensum. In der Folge geben sie
einander buchstäblich die Klinke des gleichen Klassenzimmers in die Hand. Dass
Französisch und Englisch von Lehrkräften unterrichtet werden, die der Sprache
nicht gerade unkundig, aber auch nicht Herr sind, habe er schon beim ersten
Kind erlebt. Und zu behaupten, altersdurchmischte Gruppen unter diesen
Umständen dienten dem Lernen, sei weit mehr Wunschdenken als Wirklichkeit.
Hier
drängen sich ein paar Bemerkungen auf. Mein Eindruck vom Unterricht war eine
Momentaufnahme, und die Erfahrungen meines Kollegen mögen sich von jenen vieler
andern Eltern unterscheiden. Allerdings bestätigt, was ich an diesem Tag gehört
und erlebt habe, meine schon lang andauernde Skepsis gegenüber Experimenten mit
Kindern. Denn darum handelt es sich. Die Diskussionen unter
Bildungstheoretikern, -politikern und leicht begeisterten Lehrkräften drehen
sich viel mehr um Ideologie als um Fakten. Altersdurchmischte Klassen würden
«Heterogenität als Lernchance für individualisierendes und integratives
gemeinsames Lernen nutzen», heisst es in einem Papier der Pädagogischen
Hochschule an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Das mag unter
Laborbedingungen der Fall sein. Dass sie in der harten Realität für die Kinder
besser sind als einzelne Klassenzüge, ist keineswegs bewiesen. Nachgewiesen ist
hingegen, dass Kinder mit Frühfranzösisch und -englisch in der Oberstufe
gegenüber den Anfängern keine erkennbaren Vorteile haben. Das sei, sagen die
Befürworter, weil sie nicht da abgeholt würden, wo sie sprachlich stehen. Auch
das ist Realität, weil die öffentliche Volksschule auch beim besten Willen
nicht für jede Gruppe und jedes Kind ein eigenes Programm einhalten kann.
Sicher
lernt man Fremdsprachen je früher, desto besser. Spielerisch lernen ist auch
gut. Nur geht das nicht mit zwei oder drei Wochenstunden und erst recht nicht
mit Lehrkräften, welche die Sprache mittelmässig beherrschen. Das British
Council, die Organisation mit der weltweit längsten Erfahrung im
Sprachunterricht, schreibt: Wer Kinder unterrichtet, muss die Sprache so
beherrschen, dass sie für die Schüler ein Vorbild ist. Wo kämen wir hin, wenn
die Lehrer im Deutschunterricht fehlerhaft deutsch sprechen würden? Warum soll
für Fremdsprachen etwas anderes gelten? Wer aber in der Schweiz Primarschüler
unterrichten will, muss beispielsweise das «Cambridge Certificate of Advanced
English» vorweisen und sich zwölf Wochen in englischem Sprach-gebiet
aufgehalten haben. Zwölf Wochen! Auf Wunsch auch dreimal vier Wochen. Und dann
soll die Lehrperson die Sprache nicht nur fliessend, sondern vorbildlich
sprechen. Das ist reines Wunschdenken.
Ich
kenne Kinder, die in einer zweisprachigen Primarschule waren. Nach der vierten
Klasse unterhielten sie sich in den USA ohne Schwierigkeiten mit andern
Kindern, nach der sechsten Klasse redeten sie englisch wie deutsch. Denn sie
lernten erstens bei Lehrern, die in ihrer Muttersprache unterrichten, zweitens
nicht zwei oder drei Lektionen pro Woche. Alle Fächer wurden zur Hälfte
deutsch, zur Hälfte englisch unterrichtet.
Ich
weiss, das ist an der öffentlichen Volksschule nicht möglich. Längere
Sprachaufenthalte kann niemand finanzieren. Und genügend Lehrkräfte mit
Englisch oder Französisch als Muttersprache und erst noch einer Lehrbefähigung
gibt es wohl nicht. Vielleicht sollte man endlich überlegen, was in der
Realität möglich ist – mit den Lehrern, die wir nun mal haben, mit den
Schülern, die wir nun mal haben, mit dem Geld, das wir nun mal haben. Was dann
als möglich erkannt wird, soll man tun, aber richtig. Es darf nicht sein, dass
die Tatsachen so lange verdreht und Schwierigkeiten kleingeredet werden, bis
die Schule den Theorien der Bildungsleute entspricht.
Quelle: Ruedi Arnold, Basler Zeitung, 3.10.
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