Ohne Religion sind die Meisterleistungen in
Baukunst, Musik oder Malerei undenkbar. Die Werke zu Ehren Gottes gehören zum
kulturellen Erbe der Menschheit, sie sind ein Grundpfeiler des Bildungskanons.
Deshalb drängen sich weltweit die Touristenmassen in Kathedralen, Tempeln und
Moscheen. Die berühmtesten unter ihnen sind nicht mehr in erster Linie Orte
gelebten Glaubens, sondern Museen. Auch Feiertage wie Ostern, an denen sich
diverse Bräuche überlagern, dienen gerade in unseren Breitengraden immer weniger
der Vergegenwärtigung Gottes. Und der Kern religiöser Riten etwa am Ende des
Lebens ist für viele nicht mehr sakrosankt. So weit die gesellschaftliche
Realität, insbesondere in der Schweiz. Konstatiert werden muss zudem, dass mit
Religion immer noch Gewaltexzesse legitimiert werden. Sie leisten Stereotypen
von Glaubensgemeinschaften Vorschub, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt in
unserem Land strapazieren.Diese Realitäten blenden die Verantwortlichen des
neuen Zürcher Lehrmittels «Blickpunkt Religion und Kultur» weitgehend aus. Zwar
stellen sie das Christentum wie von der Bildungsdirektion verlangt in die Reihe
der fünf grossen Weltreligionen und geben Hinweise auf Differenzen und
Gemeinsamkeiten. Und gestalterisch wirken die drei Bände, welche die spezifisch
geschulten regulären Lehrer der verschiedenen Volksschulstufen nun einsetzen,
ansprechend und modern. Dazu gehören Bezüge zur Alltagswelt, mit denen
insbesondere der Band für die Unterstufe arbeitet. Trotzdem entpuppt sich
dieser als ein Minderheitenprogramm für Kinder, die in einem Klima gelebter
Religion aufwachsen. Im Zentrum stehen die religiösen Symbolsysteme, die nicht
erklärt werden, sondern deren Kenntnis vorausgesetzt wird. So sind etwa beim
Thema Geburt und Taufe auch muslimische Symbole wie Schere und Münze
abgebildet. Im Text wird suggeriert, dass das muslimische Mädchen Aischa,
«weiss, was die Münze und die Schere bedeuten». Entsprechend fehlt eine
Antwort.Solche Sätze wecken Zweifel, ob das neue Lehrmittel seinem Anspruch auf
eine neutrale Darstellung der Weltreligionen tatsächlich gerecht wird.
Bedingung dazu wäre, die Schüler nicht auf ihre unterschiedlichen
Glaubensrichtungen festzunageln, sondern insbesondere auf der Oberstufe zu
fragen, wie sich die Symbole und Geschichten interpretieren lassen und wozu sie
zu gebrauchen sind. Ein solcher wirklich objektiver Blickwinkel würde auch die
Funktionalisierung von Religion umfassen. Der Blick von aussen würde zudem
ermöglichen, Religion als ein Konzept zu vermitteln, das unter anderen
Konzepten Antworten auf die grossen Fragen des Menschen gibt. Stattdessen wird
der Eindruck erweckt, als seien allein die Religionen für ethische Belange
zuständig. Der Standpunkt, nicht religiös zu sein und trotzdem ethischen Grundwerten
nachzuleben, taucht im Band für die Oberstufe nur am Rand auf. Absolut
stiefmütterlich wird die grosse Mehrheit behandelt, die sich nicht explizit von
Religion lossagt, in deren Alltag sie aber nicht präsent ist.Gemäss neuem
Lehrplan soll das Thema Ethik ins Fach Lebenskunde integriert werden. Dagegen
ist nichts einzuwenden - nur entbindet es die Religionspädagogen nicht davon,
den Schülern Anhaltspunkte zu geben, wie sie die verschiedenen und verschieden
gelebten (religiösen) Wertesysteme einordnen könnten. Ausgangspunkt ist
zweifellos die Alltagswelt - aber in ihrer ganzen spannungsreichen
Heterogenität. Warum nicht eine Party thematisieren, an der manche Jugendliche
aus ganz unterschiedlichen Gründen kein Fleisch essen? Zu Wort kommen könnte
auch ein Veganer, der dies mit Argumenten einer modernen Ethik begründet.
Religions-Lehrbuch mit zentraler Lücke, NZZ, 6.7. von Dorothee Vögeli
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