Wer wünschte sich für seine Kinder nicht einen Platz auf der
Sonnenseite des Lebens? Der Gymi-Hype zeigt: Immer mehr Eltern sehen die
klassische Maturität als besten Weg dorthin. Dass das Bildungssystem in der
Schweiz durchlässiger ist als je zuvor und höchste Bildungsweihen auf
unterschiedlichen Wegen zu erlangen sind, scheint dabei keine Rolle zu spielen.
Das Gymnasium ist so begehrt wie noch nie. Für Zürich ist
besonders die Entwicklung an den Langgymnasien bemerkenswert, die direkt an die
Primarschule anschliessen. Deren Anteil hat sich seit den siebziger Jahren auf
mehr als 15 Prozent eines Schülerjahrgangs nahezu verdoppelt, während der
Anstieg der Mittelschülerquote wesentlich gemächlicher verlief. Der Run aufs
Langgymnasium setzte in der zweiten Hälfte der Neunziger ein, als in der
Schweiz der Lehrstellenmangel eines der dominierenden Themen wurde. Haben
hauseigene Versäumnisse in der Berufsbildung einen Trend eingeleitet, der nun
als Schwächung der Berufsbildung beklagt wird?
Im Kanton Zürich hat das Gerangel um die knappen Gymi-Plätze
bedenkliche Ausmasse erreicht. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt der
Zugang über eine Aufnahmeprüfung. Bestehen oder nicht wird für viele Väter und
Mütter zur Schicksalsfrage - als ob das Leben ihrer Kinder davon abhinge.
Entsprechend gross ist die Bereitschaft, alles für diesen Bildungserfolg zu tun.
Nichts mehr von der relativen Unaufgeregtheit früherer Tage.
Für meine Gymivorbereitung Anfang der achtziger Jahre riet mir
der Lehrer schlicht, in der Papeterie das Standard-Bändchen mit alten
Aufnahmeprüfungen zu kaufen und die Aufgaben durchzuarbeiten. Wenn Fragen
auftauchten, könne ich während der Stunde zu ihm nach vorne kommen. Zugegeben:
Das war in einer Landgemeinde mit vermutlich mehr Bauernhöfen als Akademikern.
Andernorts mag es schon damals etwas weniger gelassen abgelaufen sein. Von der heutigen
Hysterie war man aber sicherlich meilenweit entfernt.
Heute trauen viele Eltern der Volksschule eine adäquate
Vorbereitung nicht mehr zu. In der Tat bestehen markante Unterschiede zwischen
den einzelnen Zürcher Gemeinden und zwischen dem Engagement der Lehrer. Für die
individuelle Verbesserung der Zugangschancen ans Gymnasium hat sich darum eine
florierende private Bildungsindustrie etabliert. Sie bietet Eltern, die es sich
leisten können, Unterstützung an.
Laut Untersuchungen besuchen rund zwei Drittel aller
Langgymi-Kandidaten einen ausserschulischen Vorbereitungskurs. Das verzerrt
aber die Prüfungsresultate: Wer mit dem Aufbau der Tests vertraut ist, hat
einen deutlichen Wettbewerbsvorteil im harten Kampf um die begehrten Plätze.
Das ist, als ob beim Lauberhornrennen nur die vermögenden Athleten die Strecke
vorher besichtigen und Trainingsfahrten absolvieren dürften.
Die Selektionsergebnisse sprechen eine deutliche Sprache. Ans
Langgymnasium gelangen je nach Gemeinde zwischen null und über vierzig Prozent
eines Jahrgangs. Krasse Unterschiede bestehen auch innerhalb der Stadt Zürich:
Schwamendinger Kinder haben eine fünfmal geringere Chance, ans Langgymnasium zu
gelangen, als die Zürichberg-Sprösslinge.
Niemand wird annehmen, das habe allein mit der Intelligenz der
Kinder und Jugendlichen zu tun. Nicht zufällig bilden die Gymiquoten aber
ziemlich präzise Gebiete mit tiefem Steuerfuss, hoher Steuerkraft und
prestigeträchtigen Wohnlagen ab. Die Zugangschancen sind unfair verteilt. Der
Prüfungserfolg ist dank den kostspieligen privaten Vorbereitungskursen
mindestens teilweise käuflich und hängt vom Portemonnaie der Eltern ab.
Die besten Chancen im heutigen Aufnahmeverfahren erhalten darum nicht die Schüler und Schülerinnen mit dem grössten Potenzial. Übersteuert wird dieses von den «Trainingslagern», wie sie die Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli bezeichnet (weniger freundliche Stimmen sprechen von «Doping»). Die Pisa-Ergebnisse zeigen: Kinder, die trotz ungenügenden Lese- und Schreibfähigkeiten am Gymi sind, stammen vorwiegend aus gutsituierten Familien. Das sollte sich vor Augen halten, wer das Bildungsniveau der Maturanden beklagt. Das Problem ist nicht, dass zu viele eine Matura abschliessen, sondern dass es zum Teil die Falschen sind.
Das heutige Zugangssystem trägt daran eine Mitschuld.
Der Kanton Zürich täte gut daran, die Aufnahmeprüfung mindestens für das
Langzeitgymnasium abzuschaffen. Andere Kantone kommen bestens ohne aus. Es gibt
valable Alternativen, bei denen nicht die kurzfristige Höchstleistung, sondern
das langfristige schulische Leistungspotenzial im Vordergrund steht, allen
voran ein allgemeiner kognitiver Fähigkeitstest und eine Empfehlung der
abgebenden Lehrperson, allenfalls kombiniert mit einer Einspracheprüfung für
Kinder von Eltern, die mit einem negativen Bescheid nicht einverstanden sind.
Ein solcher Wechsel bringt nicht nur eine sinnvollere Selektion mit sich. Er
ist auch geeignet, der Gymi-Hysterie entgegenzuwirken.Die besten Chancen im heutigen Aufnahmeverfahren erhalten darum nicht die Schüler und Schülerinnen mit dem grössten Potenzial. Übersteuert wird dieses von den «Trainingslagern», wie sie die Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli bezeichnet (weniger freundliche Stimmen sprechen von «Doping»). Die Pisa-Ergebnisse zeigen: Kinder, die trotz ungenügenden Lese- und Schreibfähigkeiten am Gymi sind, stammen vorwiegend aus gutsituierten Familien. Das sollte sich vor Augen halten, wer das Bildungsniveau der Maturanden beklagt. Das Problem ist nicht, dass zu viele eine Matura abschliessen, sondern dass es zum Teil die Falschen sind.
Quelle: NZZaS, 30.6. von Ralf Margreiter
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