30. Juni 2013

Nicht die Klügsten sondern die Reichsten schaffen es ans Gymi

Wer wünschte sich für seine Kinder nicht einen Platz auf der Sonnenseite des Lebens? Der Gymi-Hype zeigt: Immer mehr Eltern sehen die klassische Maturität als besten Weg dorthin. Dass das Bildungssystem in der Schweiz durchlässiger ist als je zuvor und höchste Bildungsweihen auf unterschiedlichen Wegen zu erlangen sind, scheint dabei keine Rolle zu spielen.
Das Gymnasium ist so begehrt wie noch nie. Für Zürich ist besonders die Entwicklung an den Langgymnasien bemerkenswert, die direkt an die Primarschule anschliessen. Deren Anteil hat sich seit den siebziger Jahren auf mehr als 15 Prozent eines Schülerjahrgangs nahezu verdoppelt, während der Anstieg der Mittelschülerquote wesentlich gemächlicher verlief. Der Run aufs Langgymnasium setzte in der zweiten Hälfte der Neunziger ein, als in der Schweiz der Lehrstellenmangel eines der dominierenden Themen wurde. Haben hauseigene Versäumnisse in der Berufsbildung einen Trend eingeleitet, der nun als Schwächung der Berufsbildung beklagt wird?
Im Kanton Zürich hat das Gerangel um die knappen Gymi-Plätze bedenkliche Ausmasse erreicht. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt der Zugang über eine Aufnahmeprüfung. Bestehen oder nicht wird für viele Väter und Mütter zur Schicksalsfrage - als ob das Leben ihrer Kinder davon abhinge. Entsprechend gross ist die Bereitschaft, alles für diesen Bildungserfolg zu tun. Nichts mehr von der relativen Unaufgeregtheit früherer Tage.
Für meine Gymivorbereitung Anfang der achtziger Jahre riet mir der Lehrer schlicht, in der Papeterie das Standard-Bändchen mit alten Aufnahmeprüfungen zu kaufen und die Aufgaben durchzuarbeiten. Wenn Fragen auftauchten, könne ich während der Stunde zu ihm nach vorne kommen. Zugegeben: Das war in einer Landgemeinde mit vermutlich mehr Bauernhöfen als Akademikern. Andernorts mag es schon damals etwas weniger gelassen abgelaufen sein. Von der heutigen Hysterie war man aber sicherlich meilenweit entfernt.
Heute trauen viele Eltern der Volksschule eine adäquate Vorbereitung nicht mehr zu. In der Tat bestehen markante Unterschiede zwischen den einzelnen Zürcher Gemeinden und zwischen dem Engagement der Lehrer. Für die individuelle Verbesserung der Zugangschancen ans Gymnasium hat sich darum eine florierende private Bildungsindustrie etabliert. Sie bietet Eltern, die es sich leisten können, Unterstützung an.
Laut Untersuchungen besuchen rund zwei Drittel aller Langgymi-Kandidaten einen ausserschulischen Vorbereitungskurs. Das verzerrt aber die Prüfungsresultate: Wer mit dem Aufbau der Tests vertraut ist, hat einen deutlichen Wettbewerbsvorteil im harten Kampf um die begehrten Plätze. Das ist, als ob beim Lauberhornrennen nur die vermögenden Athleten die Strecke vorher besichtigen und Trainingsfahrten absolvieren dürften.
Die Selektionsergebnisse sprechen eine deutliche Sprache. Ans Langgymnasium gelangen je nach Gemeinde zwischen null und über vierzig Prozent eines Jahrgangs. Krasse Unterschiede bestehen auch innerhalb der Stadt Zürich: Schwamendinger Kinder haben eine fünfmal geringere Chance, ans Langgymnasium zu gelangen, als die Zürichberg-Sprösslinge.
Niemand wird annehmen, das habe allein mit der Intelligenz der Kinder und Jugendlichen zu tun. Nicht zufällig bilden die Gymiquoten aber ziemlich präzise Gebiete mit tiefem Steuerfuss, hoher Steuerkraft und prestigeträchtigen Wohnlagen ab. Die Zugangschancen sind unfair verteilt. Der Prüfungserfolg ist dank den kostspieligen privaten Vorbereitungskursen mindestens teilweise käuflich und hängt vom Portemonnaie der Eltern ab. 
Die besten Chancen im heutigen Aufnahmeverfahren erhalten darum nicht die Schüler und Schülerinnen mit dem grössten Potenzial. Übersteuert wird dieses von den «Trainingslagern», wie sie die Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli bezeichnet (weniger freundliche Stimmen sprechen von «Doping»). Die Pisa-Ergebnisse zeigen: Kinder, die trotz ungenügenden Lese- und Schreibfähigkeiten am Gymi sind, stammen vorwiegend aus gutsituierten Familien. Das sollte sich vor Augen halten, wer das Bildungsniveau der Maturanden beklagt. Das Problem ist nicht, dass zu viele eine Matura abschliessen, sondern dass es zum Teil die Falschen sind.
Das heutige Zugangssystem trägt daran eine Mitschuld. Der Kanton Zürich täte gut daran, die Aufnahmeprüfung mindestens für das Langzeitgymnasium abzuschaffen. Andere Kantone kommen bestens ohne aus. Es gibt valable Alternativen, bei denen nicht die kurzfristige Höchstleistung, sondern das langfristige schulische Leistungspotenzial im Vordergrund steht, allen voran ein allgemeiner kognitiver Fähigkeitstest und eine Empfehlung der abgebenden Lehrperson, allenfalls kombiniert mit einer Einspracheprüfung für Kinder von Eltern, die mit einem negativen Bescheid nicht einverstanden sind. Ein solcher Wechsel bringt nicht nur eine sinnvollere Selektion mit sich. Er ist auch geeignet, der Gymi-Hysterie entgegenzuwirken.
Quelle: NZZaS, 30.6. von Ralf Margreiter

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