Wenn ein Lehrer vor der Klasse steht
und allen Schülern gleichzeitig erklärt, wie der Satz des Pythagoras
funktioniert, so nennt man das heute abschätzig: Frontalunterricht. Der
Klassenunterricht, wie er eigentlich heisst, steht bei «progressiven» Bildungstheoretikern
etwa so hoch im Kurs wie das Feldschiessen oder das Konkurrenzdenken. Die
Schüler, so ihre Kritik, würden nach dem Giesskannenprinzip mit Wissen
gefüttert und so zu unselbständigen Konsumenten erzogen. Zeitgemässer
Unterricht hat gemäss «moderner» Lehre nach dem Lustprinzip zu funktionieren:
Der Lehrer ist eine Art «Coach» im Hintergrund, die Kinder bestimmen selber,
was sie gerade lernen wollen. In der Praxis sieht das etwa so aus: Fritzli übt
Pantomime, Heidi löst Rechenaufgaben, Abdul hat gerade keine Lust auf Lernen
und erholt sich auf dem Klassensofa. «Schülerzentrierter Unterricht» oder
«selbstgesteuertes Lernen» nennt man das, und selbstverständlich ist für dessen
Anhänger klar, dass dieses Prinzip dem altbackenen Frontalunterricht haushoch
überlegen ist.
Wissenschaftlich belegen liess sich
das bisher allerdings nicht, im Gegenteil. «Frontalunterricht macht klug»,
titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung kürzlich. Die Zeitung stützt sich auf die
Arbeit «Is Traditional Teaching Really all that bad?», die der Münchner
Wissenschaftler Guido Schwerdt 2011 veröffentlichte. Da es für Deutschland kaum
Datenmaterial gibt, wertete Schwerdt grossangelegte Schülerbefragungen und
-tests aus den USA aus. Dabei zeigte sich, dass Schüler, die nach
traditionellen Methoden unterrichtet wurden, in Wissenstests signifikant
besser abschnitten als jene, die sich selbstgesteuert bildeten.
Von einem positiven Effekt der neuen
Methoden, so Schwerdts Fazit, könne keine Rede sein. Natürlich lassen sich die
Verhältnisse in den USA nicht 1:1 auf Deutschland oder die Schweiz übertragen.
Doch wer sich hierzulande bei Lehrern, Schülern und Eltern umhört, die mit
selbstgesteuerten Experimenten konfrontiert sind, ist über das Ergebnis der
Studie kaum überrascht. In der Praxis sind schwache und mittelmässige Schüler
mit der grossen Freiheit überfordert, die Motivation sinkt. Die Befürworter
konstruktivistischer Theorien haben sich bisher darauf beschränkt, ihre
Überlegenheit philosophisch zu begründen. Dabei wäre es eigentlich an ihnen,
wissenschaftliche Beweise zu liefern.
Quelle: Weltwoche 1.13 von Lucien Scherrer
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