16. Dezember 2012

Vorsicht vor der Zentralisierung der Schulbildung

Die kritischen Stimmen gegenüber dem Lehrplan 21 mehren sich. Nun mahnt auch Gottlieb Höpli vor den Auswüchsen einer zu stark reglementierenden Administration.
In einer Buchhandlung der Pariser Rive gauche bin ich vor einiger Zeit auf einen interessanten Band gestossen, 543 Seiten stark: «Direction d'école», ein Handbuch für den Leiter einer französischen Grundschule. Anschauungsunterricht für eine detailversessene, ausschliesslich von oben nach unten ausgerichtete Organisation. Wie es im Staate Frankreich eben üblich ist.
Von Brest bis Ajaccio hat der französische Schuldirektor laut diesem «Bordbuch» beispielsweise dreimal jährlich zum landesweit exakt gleichen Zeitpunkt eine Brandschutzübung durchzuführen. Er wird angeleitet, wie die Traktandenlisten von Lehrerkonferenzen und Elternversammlungen auszusehen haben, wie der Weihnachtsbaum im Schulhof aufgestellt und dekoriert werden und wie man sich gegenüber von Eltern mitgebrachten Kuchen verhalten soll: Die seien nur zu akzeptieren, wenn sie gleichentags gebacken wurden und auf keinen Fall Crème Chantilly enthielten.
In der Schweiz sind wir von solchen Verhältnissen noch weit entfernt. Aber: Nähern wir uns ihnen seit geraumer Zeit nicht allmählich, auf leisen Sohlen? Nicht nur, aber auch in der Schule: Von Harmos bis Bologna, von der Installierung professioneller Schulleiter bis zum Fremdsprachenunterricht bewegt sich das helvetische Bildungswesen unter dem Titel «Harmonisierung» auf eine Vereinheitlichung zu.
Harmonisierung von 21 Deutschschweizer Schulsystemen ist gewiss nicht von vornherein von Übel. Nur darf sie nicht zum getarnten Vehikel einer nicht deklarierten, viel tiefgreifenderen Schulreform werden. Einer Reform, in den Augen vieler Kritiker oft bloss blinde Reformitis, die in
den letzten zwei Jahrzehnten für viel böses Blut gesorgt hat - bei den Lehrkräften ebenso wie beim Stimmvolk, das gegenüber Bildungsreformen zurzeit eine geradezu störrische Verweigerungshaltung an den Tag legt. Jüngstes Beispiel: das massive Zürcher Volksnein (über 71 Prozent) vom vergangenen 25. November zur Grundstufe, gegen die Parolen von Regierung, Parlament, staatstragenden Parteien (mit Ausnahme der SVP) und Medien. Auch ein Kompromissvorschlag, der vieles beim Alten belassen hätte, fand keine Gnade.
Haben unsere Bildungsbürokraten und -politiker aus dieser Skepsis gelernt? Halten sie sich zurück mit allzu forschen Reformvorschlägen? Es macht nicht den Anschein, ganz im Gegenteil. Der grosse Schritt in eine lichte, zentralisierte Bildungszukunft steht uns erst noch bevor. Er heisst «Lehrplan 21» und soll im kommenden Jahr in eine grosse Konsultation geschickt werden.
Beim Lehrplan 21 handelt es sich nicht nur, wie es offiziell heisst, um eine Harmonisierung von 21 kantonalen Lehrplänen. Sondern um eine Reform aller Lehrinhalte, die an Zentralisierung und Detaillierungsgrad alles Bisherige in den Schatten stellt. Die den Lehrkräften nicht mehr, sondern weniger Bewegungsspielraum zugesteht - Frankreich lässt grüssen.
Das beginnt bei der Einführung eines neuen zentralen Oberbegriffs: den Kompetenzen. Er wird den bisherigen Begriffen wie Fähigkeiten, Kenntnissen und Fertigkeiten übergestülpt. Das ist nicht einfach eine neue Terminologie. Kompetenzen müssen laut deutschen Bildungsexperten unter einen «handlungszentrierten Betrachtungsfocus» gestellt werden (Erpenbeck und Rosenstiel). Dadurch werden sie schwieriger messbar - die Folgen sind wohl klar: Auf Schulnoten wird man verzichten müssen. Auch darum, weil klassische Fächer - von Hauswirtschaft über Geschichte bis zur Religion - in einem schwammigen Fachbereich «Natur, Mensch, Gesellschaft» aufgehen sollen. Hinzu kommen überfachliche Themen, in denen viel Zündstoff enthalten ist: Gender und Gleichstellung, globale Entwicklung und Frieden, kulturelle Identitäten und interkulturelle Verständigung.
Man muss nicht Hellseher zu sein, um für 2013 einen gewaltigen Streit um diese Schulreform unter dem Mantel der Harmonisierung vorauszusehen.
 Höpli: "Geradezu störrische Verweigerungshaltung"
Quelle: NZZaS, 16.12.

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