Zu meiner Zeit an einem Bieler Oberstufenzentrum gab es
immer wieder Lehrkräfte, die wegen Burnouts kurzfristig aussteigen mussten. Die
daraufhin einspringenden Stellvertreter hatten jeweils keine leichte Aufgabe.
Einer aber – nennen wir ihn Remo E. (Name geändert) – blieb mir derart in
Erinnerung, dass ich heute noch Kontakt mit ihm pflege. Es handelte sich um
einen 32-jährigen Ruder-Athlethen und Trainer, der dem einen Drittel
ausgebildeter Lehrkräfte angehört, die Ihre Stelle jeweils nach zwei Jahren quittieren.
Er erwies sich als
Glückstreffer, kam mit unseren Migrantenkids gut aus, führte sie
ordentlich zum Ende der offiziellen Schulpflicht und organisierte eine prima
Abschlussreise. Kurzum, er überzeugte uns. Wir versuchten ihn zu überreden, bei
uns als Klassenlehrkraft einzusteigen.
Seine Reaktion war bezaubernd: "Das, lieber Alain, ist
für mich nun wirklich keine Option. Dieser Aufwand, diese Belastung, diese
Arbeitszeit zu diesem Lohn, nein, das kommt für mich nicht in Frage." Der
Mann brachte es auf den Punkt und fasste in einem Satz das ganze Dilemma der
Praxis zusammen. Und das Schlimmste: Ich verstand ihn.
Ich schätze direkte und ehrliche Leute und so blieben wir in
Kontakt. Ein Jahr später erhielt ich eine Mail von ihm. Darin gestand er mir verschämt:
"Lieber Alain, ich hoffe, dass unsere freundschaftlichen Beziehungen jetzt
nicht in die Brüche gehen. Ich trete nächste Woche den Job in der Bieler
Schuldirektion an."
Seitdem höre ich wieder mehr von ihm, nicht direkt, sondern
über meine Ex-Kollegen, welche die Papiere, Vorstösse, Evaluationen,
Strategiekonzepte des Remo E. empfangen. Sei es die Zentralisation der
Schulapotheken, die Neuordnung der Kulturveranstaltungen, die Informatik in den
Schulbibliotheken, die Entwicklung der Rückmeldungskultur, alles signiert von
Remo E. Remo rudert nicht mehr, er steuert.
Remo liegt im Trend. Eine tertiäre Ausbildung stösst
massenweise gut ausgebildete Bildungsmänätscher, Entwicklungspsychologen oder
Kommunikationsspezialisten aus und die Arbeitsbedingungen an der Volksschule
sorgen weiterhin für einen ungebrochenen Ansturm auf die Stellen in der
Bildungsbürokratie. Sie alle wollen steuern und nicht rudern.
Als ich 2010 meine Stelle in Biel kündigte, meldete sich bei
der ersten Ausschreibung niemand, der meinen Job weiterführen wollte. Auf die
etwas vorher ausgeschriebene Stelle eines Casemanagers der Berufsberatung in
Biel trudelten 50 Bewerbungen ein, viele davon Lehrkräfte.
Sein Chef, der sozialdemokratische Bildungsdirektor
Moeschler, ist ein wahrer Steuerungsfan. Zahlreiche Stellen hat er geschaffen.
Für die 6 Schulsozialarbeiter (alle mit einer 50%-Stelle) schuf er zum
Entsetzen der Bieler Schulleiter eine Leitungsfunktion von 40%, eine
Kindergärtnerin wurde Integrationsfachfrau für die Unterstufe, eine Lehrerin
Integrationsfachfrau für die Oberstufe. Kommunikationskonzept,
Integrationskonzept, Früherziehungskonzept, Peacekonzept, Bildungsstrategie,
der gute Sozialdemokrat kniete sich dermassen in Steuerungsfragen hinein, dass
er darob seine eigentliche Aufgabe, die Schulraumplanung völlig vergass. Die Folge: In einer Feuerwehrübung
müssen heute Container aufgestellt und Schulraumnotbauten errichtet werden.
Aber der gute Herr Moeschler ist nicht der einzige, der
steuern und nicht rudern will. ERZ, Schulinspektorat, Schulkommissionen,
regionale (städtische) Bildungsverwaltungen und die PH’s – sie alle wollen
natürlich auch steuern. Die Folge: Von Volksschule bis Fachhochschule und
Universität laufen unendliche Reformrunden für Pensen, Bewertungen, Evaluationen,
Mediationen, für Förderung und Einebnung gleichzeitig. Das Bildungswesen des
Kantons Bern ist übersteuert
Übersteuerung führt zu Machtkämpfen, Konfusionen und
Pfründen, kurz, zu einem gigantischen Ressourcenklau. Im Kanton Luzern - zum
Beispiel - wurden die Schulinspektoren bereits vor 10 Jahren abgeschafft und
niemand vermisst sie.
Wenn all die Mediatoren, Evaluatoren, Sonderförderer und
Lehrplanflicker wieder unterrichten würden, wäre der Lehrermangel zu Ende. Und
wenn es Remo E. täte, wäre auch die Qualität gut, was man nicht bei allen sagen
kann.
Vorgestern erhielt ich übrigens eine hoffnungsfrohe
Nachricht: Remo hat seine Stelle gekündigt. Er will wieder rudern, leider nicht
in der Schule sondern auf dem Bielersee.
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