21. August 2012

Wenn alle steuern, rudert keiner mehr

Die Kolumne von Alain Pichard in der Berner Zeitung ist auch diesmal wieder ein Leckerbissen.

Zu meiner Zeit an einem Bieler Oberstufenzentrum gab es immer wieder Lehrkräfte, die wegen Burnouts kurzfristig aussteigen mussten. Die daraufhin einspringenden Stellvertreter hatten jeweils keine leichte Aufgabe. Einer aber – nennen wir ihn Remo E. (Name geändert) – blieb mir derart in Erinnerung, dass ich heute noch Kontakt mit ihm pflege. Es handelte sich um einen 32-jährigen Ruder-Athlethen und Trainer, der dem einen Drittel ausgebildeter Lehrkräfte angehört, die Ihre Stelle jeweils nach zwei Jahren quittieren.
Er erwies sich als  Glückstreffer, kam mit unseren Migrantenkids gut aus, führte sie ordentlich zum Ende der offiziellen Schulpflicht und organisierte eine prima Abschlussreise. Kurzum, er überzeugte uns. Wir versuchten ihn zu überreden, bei uns als Klassenlehrkraft einzusteigen.
Seine Reaktion war bezaubernd: "Das, lieber Alain, ist für mich nun wirklich keine Option. Dieser Aufwand, diese Belastung, diese Arbeitszeit zu diesem Lohn, nein, das kommt für mich nicht in Frage." Der Mann brachte es auf den Punkt und fasste in einem Satz das ganze Dilemma der Praxis zusammen. Und das Schlimmste: Ich verstand ihn.
Ich schätze direkte und ehrliche Leute und so blieben wir in Kontakt. Ein Jahr später erhielt ich eine Mail von ihm. Darin gestand er mir verschämt: "Lieber Alain, ich hoffe, dass unsere freundschaftlichen Beziehungen jetzt nicht in die Brüche gehen. Ich trete nächste Woche den Job in der Bieler Schuldirektion an."
Seitdem höre ich wieder mehr von ihm, nicht direkt, sondern über meine Ex-Kollegen, welche die Papiere, Vorstösse, Evaluationen, Strategiekonzepte des Remo E. empfangen. Sei es die Zentralisation der Schulapotheken, die Neuordnung der Kulturveranstaltungen, die Informatik in den Schulbibliotheken, die Entwicklung der Rückmeldungskultur, alles signiert von Remo E. Remo rudert nicht mehr, er steuert.
Remo liegt im Trend. Eine tertiäre Ausbildung stösst massenweise gut ausgebildete Bildungsmänätscher, Entwicklungspsychologen oder Kommunikationsspezialisten aus und die Arbeitsbedingungen an der Volksschule sorgen weiterhin für einen ungebrochenen Ansturm auf die Stellen in der Bildungsbürokratie. Sie alle wollen steuern und nicht rudern.
Als ich 2010 meine Stelle in Biel kündigte, meldete sich bei der ersten Ausschreibung niemand, der meinen Job weiterführen wollte. Auf die etwas vorher ausgeschriebene Stelle eines Casemanagers der Berufsberatung in Biel trudelten 50 Bewerbungen ein, viele davon Lehrkräfte.

Sein Chef, der sozialdemokratische Bildungsdirektor Moeschler, ist ein wahrer Steuerungsfan. Zahlreiche Stellen hat er geschaffen. Für die 6 Schulsozialarbeiter (alle mit einer 50%-Stelle) schuf er zum Entsetzen der Bieler Schulleiter eine Leitungsfunktion von 40%, eine Kindergärtnerin wurde Integrationsfachfrau für die Unterstufe, eine Lehrerin Integrationsfachfrau für die Oberstufe. Kommunikationskonzept, Integrationskonzept, Früherziehungskonzept, Peacekonzept, Bildungsstrategie, der gute Sozialdemokrat kniete sich dermassen in Steuerungsfragen hinein, dass er darob seine eigentliche Aufgabe, die Schulraumplanung völlig  vergass. Die Folge: In einer Feuerwehrübung müssen heute Container aufgestellt und Schulraumnotbauten errichtet werden.

Aber der gute Herr Moeschler ist nicht der einzige, der steuern und nicht rudern will. ERZ, Schulinspektorat, Schulkommissionen, regionale (städtische) Bildungsverwaltungen und die PH’s – sie alle wollen natürlich auch steuern. Die Folge: Von Volksschule bis Fachhochschule und Universität laufen unendliche Reformrunden für Pensen, Bewertungen, Evaluationen, Mediationen, für Förderung und Einebnung gleichzeitig. Das Bildungswesen des Kantons Bern ist übersteuert
Übersteuerung führt zu Machtkämpfen, Konfusionen und Pfründen, kurz, zu einem gigantischen Ressourcenklau. Im Kanton Luzern - zum Beispiel - wurden die Schulinspektoren bereits vor 10 Jahren abgeschafft und niemand vermisst sie.

Wenn all die Mediatoren, Evaluatoren, Sonderförderer und Lehrplanflicker wieder unterrichten würden, wäre der Lehrermangel zu Ende. Und wenn es Remo E. täte, wäre auch die Qualität gut, was man nicht bei allen sagen kann.
Vorgestern erhielt ich übrigens eine hoffnungsfrohe Nachricht: Remo hat seine Stelle gekündigt. Er will wieder rudern, leider nicht in der Schule sondern auf dem Bielersee. 

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