In der Schweiz werden immer mehr Kinder
wegen Schulproblemen therapiert. Jetzt reicht's, finden zwei Kinderärzte. Sie
rufen Mediziner und Psychologen dazu auf, nicht gleich bei jedem Kind einen
Defekt zu suchen
Erlöst die Schüler von unnötigen Diagnosen, NZZaS, 6.11. Interview: Simone Schmid
Romedius Alber (48) ist
Kinderarzt und Jugendpsychiater, er praktiziert in Baar und lehrt in den
Bereichen Entwicklungspädiatrie und systemische Therapie. Zusammen haben sie das
Buch «Schulschwierigkeiten: Störungsgerechte Abklärung in der pädiatrischen
Praxis» geschrieben. Es richtet sich an Fachleute und soll Leitlinien setzen,
wie Kinderärzte ihre Patienten bei Schulschwierigkeiten vernünftig und
lösungsorientiert abklären können.
Thomas Baumann (60) praktiziert seit 1986 als Kinderarzt. Er leitet das Entwicklungspädiatrische Zentrum in Solothurn und ist Autor diverser Fachbücher.
Romedius Alber Thomas Baumann
Der Bericht der NZZaS löste ein grosses Echo unter den Lesern aus. Hier ein Auszug.
AntwortenLöschenDie plakative Sichtweise von Thomas Baumann und Romedius Alber greift eindeutig zu kurz. Ich vermisse im Interview eine differenzierte Auseinandersetzung mit den komplexen Zusammenhängen von Gesellschaft, Wirtschaft, Elternhaus und Schule. Ich vermisse eine empathische und wohlmeinende Haltung den verschiedenen geforderten Akteuren gegenüber, die sich ja in aller Regel besorgt und sorgfältig bemühen, Lösungen für real belastende Schwierigkeiten zu finden.
Ich vermisse vor allem auch Lösungsansätze. Natürlich soll der Kinderarzt Eltern auf die weite Spanne der Norm hinweisen und beruhigen; aber reicht das? Besteht das Leiden dann nicht mehr, welches durch fehlende Passung zwischen den Bedürfnissen des Kindes, der Familien, der Schule, des Arbeitgebers, der Volkswirtschaft zustande kommt?
In diesem Umfeld widersprüchlicher Forderungen einen für das Kind, die Schule und die Familie gangbaren Weg zu finden, schaffen nicht alle Eltern und Lehrer allein. Hier sind Therapeuten gefordert, die mit den Beteiligten zusammen Lösungen finden, Kompromisse erarbeiten, Leiden aushalten, Hoffnung und Perspektiven suchen.
Dr. med. Christoph Walder, Facharzt Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Wallisellen (ZH)
Es sind nicht nur «über fünfzig Prozent aller Kinder», die irgendwelche Therapien in Anspruch nehmen. Auch viele Lehrpersonen kommen nur mit psychologischer Beratung und medikamentöser Behandlung über die Runden. Viele Schulen weinen, aber sie leiden lieber am Gewohnten, als die Chance von Neuem zu nutzen. Eine Schule, die sich an einer Rennbahn-Pädagogik und nicht an den Kindern orientiert, wie sie sind, muss scheitern. Immer und ewig.
Aus dieser Sackgasse, in der nur noch mehr funktionale Analphabeten und überforderte Lehrpersonen produziert werden, führt der Weg über die Individualisierung, bei der alle Schülerinnen und Schüler in ihren Talenten gefördert werden.
Ueli Keller, Allschwil (BL)
Die Kinderärzte im Interview von Simone Schmid haben im Grundsatz recht mit ihrer Forderung nach weniger Therapien für Schüler. Solange sie aber besorgten Eltern kleiner Kinder raten, man könne ruhig abwarten, es habe ja noch Zeit, verhalten sie sich explizit kontraproduktiv zu ihrer Forderung, weil die Zeit allein nicht immer alles regelt, wie die beklagte Erfahrung zeigt. Deshalb ermuntere ich alle Eltern, ihre Sorge frühzeitig durch die zuständige Fachperson klären zu lassen.
Helena Beusch, Logopädin, Rünenberg (BL)
Die beiden Kinderärzte haben recht. Viele Schülerinnen und Schüler geraten in die «Therapiemühle», obwohl sie eine Spezialbehandlung eigentlich gar nicht benötigen. Den Ausführungen ist beizupflichten. Ein Aspekt sollte aber noch erwähnt werden.
Vielerorts wurden die Sonderklassen aufgehoben, und die Reformer erklärten, fortan würden die Kinder in den Normalklassen von ausgebildeten Therapeuten betreut. Nur stimmt diese Behauptung leider vielerorts nicht. Im Kanton Zürich beispielsweise gibt es viel zu wenig solcher Spezialisten oder Spezialistinnen, weshalb oft einfach andere Leute ohne entsprechende Ausbildung gewisse Zusatzstunden übernehmen. Zumindest in diesem Punkt ist die Schulreform nicht gelungen.
Hans-Peter Köhli, Zürich