6. Mai 2018

Wenn Lernformen Kinder überfordern

Seit den 1970er-Jahren wird bei uns, und nicht nur da, auf Kosten der Schüler am ­Bildungssystem herum­laboriert. Ob es funktioniert, wird am lebendigen Wesen ausprobiert. Geht es gut, dann wollen alle die Erfolge ein­heimsen, geht es daneben, dann tragen die Kinder die Folgen. Einer der neuesten pädago­gischen Trends, der in Wirklichkeit jedoch nicht so neu ist, wie er sich gibt, nennt sich «Selbstorganisiertes Lernen SOL». Das klingt in der Theorie toll. Denn wer möchte nicht mit­bestimmen, was er lernt, sich nicht eigenständig Lernziele setzen und selber geeignete Lernstrategien auswählen. Doch die Realität sieht anders, sieht nüchterner aus.

Wenn Lernformen Kinder überfordern, St. Galler Tagblatt, 27.4. von Mario Andreotti


Selbstorganisiertes Lernen gründet in der Idee,Lern­prozesse seien dann erfolgreich, wenn Kinder, wie eben gesagt, möglichst viel mitbestimmen, sich selber Lernziele setzen ­können, die sie erreichen wollen, wenn sie sich selbst motivieren und so Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen. Betont, ja geradezu verabsolutiert wird damit die aktive Seite des Lernens und der Lernenden. Für besonders begabte Schülerinnen und Schüler mögen selbstgesteuerte Lernformen viel Freiheit und Mitbestimmung bieten; die Lehrperson kann, so wird versichert, gezielter auf einzelne Schüler eingehen. Zudem sollen diese Lernformen den Schul­betrieb flexibler machen. Das hört sich alles gut an.

Trotzdem ist selbstorganisiertes Lernen nicht kindgerecht, wie auch der Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl festhält. Primarschülern gibt man vor, sie könnten ihren Lernprozess selber steuern. Das setzt eine Vorstellung von Autonomie voraus, über die Kinder noch gar nicht verfügen. Sie fühlen sich allein gelassen, was Überforderung und Stress auslöst. Und das in einer Zeit, in der Kinder und Jugendliche sonst schon zunehmend über Druck und Überforderung durch Familie und Gesellschaft klagen. Selbst Gymnasiasten, vor allem wenn es sich um leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler handelt, bekunden mit selbstorganisiertem Lernen ihre Mühe, wie erste Erfahrungen an Berner Gymnasien gezeigt haben.

Das Ganze entbehrt nicht einer gewissen Paradoxie: Da werfen die Befürworter des selbstorganisierten Lernens dem herkömmlichen Unterricht im Klassenzimmer vor, Lernfreiheit und Eigenständigkeit der Schüler kämen darin zu kurz. Gleichzeitig votieren sie aber für eine derart engmaschige Beurteilung der Kinder, wie es sie nie zuvor gegeben hat. Seit einigen Jahren haben alle Lehrpersonen des Kinder­gartens und der Primarschule der Nordwestschweiz für jedes Kind einen standardisierten Lernbericht auszufüllen, in dem all seine Leistungen umfassend festgehalten sind: 72 Kreuze auf einer Skala von 1 bis 4. Da heisst es, selbst für Kindergarten­schüler, beispielsweise: «Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht und vollständig», als ob Kinder Arbeitnehmer in irgendeinem Unternehmen wären. Dass solch absurde Lernberichte, die zu unnötigem Leistungsdruck führen und letztlich nichts bringen, bei der Lehrerschaft umstritten sind, kann uns nicht erstaunen.

Selbstorganisiertes Lernen erfordert folgerichtig die Auflösung des gemeinsamen Klassenunterrichts. Die Lehrer als Wissensvermittler treten nur noch in kurzen, klassenübergreifenden Inputlektionen in Erscheinung; ihre Rolle verändert sich zunehmend hin zum reinen Lerncoach. Den überwiegenden Rest der Zeit verbringen die Schüler, mehr oder weniger sich selbst überlassen, in sogenannten «Lernateliers». Dabei haben eine ganze Reihe von Studien längst gezeigt, dass es nicht primär die Unterrichtsmethode, nicht einmal die Klassengrösse, sondern die Persönlichkeit der Lehrerin oder des Lehrers, ihre fachliche und pädagogisch-­didaktische Kompetenz ist, die zum Lernerfolg der Schüler entscheidend beiträgt. Und genau diese Lehrerpersön­lichkeiten, die den Klassenunterricht, immer wieder ergänzt durch andere Lern­formen, souverän gestalten, sollen irgendwelchen gesichtslosen Unterrichtsprojekten weichen. Ist das die Schule, die wir unseren Kindern und Jugendlichen wünschen?


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