1. Mai 2018

Migranten in der Opferrolle

«Massiv mehr Übergriffe», titelte der Sonntagsblick, darunter in fetter gelber Schrift: «Diskriminierung an den Schulen nimmt zu!» Im Text folgten Sätze wie: «Die Schweiz ist in ­dieser Hinsicht europaweit ein negatives ­Vorbild.» Da war die Rede von rassistischen Chauffeuren, die Migranten aus dem Bus ­werfen, Bademeistern, die Schwarzen das Warmwasser abstellen, und Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinder mit Migrantenkindern unterrichtet werden. Ein kleiner Junge wurde sogar als «Ebola-Kind» beschimpft.
Insgesamt 301 Fälle zählen die Rassismus­beratungsstellen: Das ist nicht mal einer pro Tag, darunter keine einzige Gewaltanwendung. Bei einer Bevölkerung von 8,4 Mil­lionen, wobei ein Viertel davon Migranten sind, eigentlich eine überschaubare Zahl. Trotzdem fordert die Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, Martine ­Brunschwig-Graf, einen besseren Opferschutz, sprich neue Gesetze: «Der gesetzliche Schutz vor Diskriminierung ist in der Schweiz ungenügend.» Dabei wird die ominöse Dunkelziffer ins Feld geführt – wohl in der Annahme, dass diese Zahlen wenig hergeben. Viele rassistische Vorfälle würden, so eine Rassismusberaterin, gar nicht erst angezeigt.
Der wahre Rassismus an den Schulen, Weltwoche, 25.4. von Alain Pichard


Mit dem Küchenmesser
Als Lehrer mit vierzig Jahren Berufserfahrung und inzwischen schweizweiter Vernetzung kann ich aus dieser Dunkelkammer ein paar Ereignisse hinzufügen, welche mir von Kolleginnen und Kollegen in der Schweiz allein in diesem Jahr zugetragen worden sind.
Da wäre ein junger Migrant türkischer Abstammung, der mit einem Küchenmesser in die Schule spazierte und zu einem Klassenzimmer schritt, in welchem eine 13-jährige Mazedonierin auf ihren Lehrer wartete. Diese hatte am Vortag die Ehre seines jüngeren Bruders «befleckt» und ihn rassistisch beleidigt. Dank dem entschlossenen Eingriff zweier Lehrer wurde der Jugendliche gestoppt und wieder hinausspediert. Es folgten Strafanzeige, Verhöre, befristete Schulausschlüsse.

An den Begriff «Scheissschweizer» haben wir uns schon gewöhnt. Eine neue und gar nicht so selten auftauchende Begrüssungsvokabel türkischer Schüler gegenüber ihren ­kurdischen Mitkameraden lautet: «Hallo, du Landloser!»

Deftig ging es kürzlich auch auf einem Pausenplatz unseres Landes zu, auf dem sich eine Gruppe von schwarzafrikanischen Mädchen und arabische Girls wüst beschimpften und danach aufeinander losgingen, angefeuert von Jungs beider Ethnien. Dabei fielen rassistische Injurien, die wohl auf einer Rassismusberatungsstelle sämtliche Alarmglocken hätten klingen lassen. Ein Polizeieinsatz und das wiederum sofortige Einschreiten der Lehrerschaft verhinderten Schlimmeres.

Es ist bei uns ein offenes Geheimnis, dass sich die Schwarzafrikaner im Schulalltag einiges anhören müssen. Aber nicht einfach, wie die Rassismusexperten gemeinhin annehmen, von ihren Schweizer Kameradinnen und Kameraden, sondern auch von arabischstämmigen Migrantinnen und Migranten.

Das erklärt vielleicht auch den Vorfall, den mir ein engagierter linker Lehrerkollege kürzlich erzählt hat. Es begann damit, dass er sich über den grossen Lärm ärgerte, der während seines Unterrichts draussen auf dem Gang herrschte. Als es ihm zu bunt wurde, trat er vor die Klassenzimmertüre und rief in den Gang: «Was ist das für ein Affentheater!» Sein Pech war, dass sich unter den lärmenden Schülern Schwarzafrikaner befanden, die sofort eine rassistische Beleidigung witterten und um­gehend auf den verdutzten Lehrer losgingen. Es blieb nicht nur bei verbalen Ausfälligkeiten, es kam auch noch zu Rempeleien. Interessant sei hier auch die Reaktion seiner eigenen Schülerinnen und Schüler gewesen, allesamt mit Migrationshintergrund. Sie waren entsetzt und meinten: «Wie kann man nur so auf einen Lehrer losgehen.» Auch dieser Vorfall ging glimpflich aus – dank des wiederum entschlossenen Eingreifens von Lehrerschaft und Schulleitung.

Vorkommnisse mit rassistischen Ausfälligkeiten, wenn es denn dazu kommt, laufen eben nicht immer nach einem Schwarzweissdrehbuch à la «Tatort» ab. Die Wirklichkeit ist um einiges vielschichtiger. Lehrkräfte und Schulleitungen stellen auch Spannungen innerhalb der verschiedenen Ethnien fest, bei denen es ab und an zu solchen Eruptionen kommen kann.

Grundsätzlich aber gilt, was kürzlich der Integrationsexperte Thomas Kessler im Bund klarstellte: Es gibt weniger Rassismus und weniger Gewalt als früher. Einer der Gründe dafür ist sicher, dass in den Schulen inzwischen eine grosse Professionalität im Umgang mit Disziplinlosigkeiten herrscht, wozu auch rassistische Beschimpfungen gehören. Dies gilt übrigens auch im Umgang mit Fehlleistungen von Lehrkräften. Man schaut hin, führt minutiöse Gespräche und verhängt, wenn es angezeigt ist, massive Sanktionen. Die Eltern werden in die Pflicht genommen. Ich weiss nicht, an welcher Schule der junge Afrikaner als «Ebola-Kind» beschimpft wurde. Wenn dieser Vorfall aber uns zu Ohren gekommen wäre, dann wäre, das kann ich mit Sicherheit sagen, eine sofortige und massive Intervention erfolgt. Das heisst: Vorladung der Eltern, schriftliche Verwarnung, Sanktionen und im Wiederholungsfall ein befristeter Schulausschluss. Das wirkt meistens.

Besser integriert als anderswo
Man muss den Schulen ihren Freiraum lassen. Sie wählen sich die Kooperationen, die sie benötigen, selber aus: Schulsozialarbeit, Polizei, Erziehungsberatung, Jugendschutz. Wenn die vorgesetzten Behörden mitspielen, braucht es nicht mehr. Auch wenn es immer wieder zu Vorfällen kommt, die kurzfristig einen ziemlichen Stress auslösen können, ist es doch erstaunlich, wie unaufgeregt Schulleitungen und Lehrkräfte oftmals mit ihnen umgehen.
Das kann man von der antirassistischen ­Helfergemeinde aus nachvollziehbaren Gründen weniger behaupten. Denn sie muss vor ­ihren privaten und staatlichen Geldgebern rechtfertigen, dass sie wirklich notwendig ist.

Natürlich ist in unserem Land nicht alles zum Besten bestellt, die 301 Vorfälle hat es zweifellos gegeben. Aber die Schweiz in Sachen Rassismus als ein Negativum darzustellen, ist schlicht faktenwidrig. Beat Kappeler schrieb in seinem Buch «Wie die Schweizer Wirtschaft tickt», dass unsere ausländischen Mitbürger viel besser integriert seien als im übrigen Europa. Und dies, obwohl die Schweiz seit dem Jahr 2000 im Verhältnis wesentlich mehr Migranten aufgenommen habe als ­beispielsweise die USA. Sie seien auch alle kranken- und altersversichert und pensionsberechtigt.

Die Geschichte der Integration ist vielmehr eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen. Wer jemals gesehen hat, wie in einer schweizerischen Asylunterkunft Erwachsene unterrichtet werden, die in ihrer Heimatsprache faktisch Analphabeten sind, nun aber plötzlich Deutsch lernen sollen, der hat eine Vorstellung davon, welche didaktischen und pädagogischen Herausforderungen damit verbunden sind. Und trotz aller Widrigkeiten ist es uns bisher gelungen, die grosse Mehrheit der Migranten in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Dies ist mit Sicherheit auch eine Erklärung dafür, weshalb bei uns Migranten weitgehend von rassistischen Übergriffen verschont bleiben.

Diese Erfolgsgeschichte gerät nun ins ­Stocken. Denn damit die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration und somit das friedliche Zusammenleben gelingen, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: Beherrschen der Landessprache, Erreichen der Grund­anforderungen im Fach Mathematik, Akzeptanz der hiesigen Demokratie-Spielregeln sowie Schulabschlüsse. «Wer die Unterrichtssprache nicht beherrscht, fällt schnell zurück, wer die Leistung nicht erbringt, wird keine Abschlüsse machen, womit der erste Arbeitsmarkt weitgehend verschlossen bleibt. Damit werden Lebensperspektiven drastisch reduziert», meint der Pädagogikprofessor ­Jürgen Oelkers. Zudem muss die Schule vielen Migranten beibringen, dass die hier geltenden Normen nicht mehr von einer Religion bestimmt werden. Das erweist sich oft als grosser Schock für einen Teil unserer Neuankömmlinge.

Diese Lernprozesse kann nur die Schule ermöglichen, was den Lehrkräften bei allen Schwierigkeiten auch recht gut gelingt. Aber sie fühlen sich zunehmend in die Rolle eines Sisyphus gedrängt. Kaum ist eine Migrationswelle mit ihren Herausforderungen einigermassen bewältigt, kommt die nächste. Kaum sind die Konzepte entwickelt, welche erfolgreiches Lernen ermöglichen, und die disziplinarischen Konflikte einigermassen unter Kontrolle, tritt man mit weiteren Heilserwartungen und zusätzlichen untauglichen Reformvorgaben an die Schule. Gleichzeitig werden der Schulpraxis finanzielle Ressourcen entzogen, Letzteres notabene bei steigenden Bildungsausgaben.

Plötzlich Opfer
Wenn dann noch eine so alberne Rassismusdebatte hinzukommt, kann dies, wie mein letztes Beispiel aus dem Monat Februar aufzeigt, auch kontraproduktive Auswirkungen haben. Da beschuldigte nämlich eine schwarzafrikanische Mutter den Klassenlehrer ihrer Tochter und die Schulleitung des Rassismus, weil die Noten ­einen weiteren Verbleib auf der Sekundarstufe nicht zuliessen. Ich predige meinen Lernenden mit Migrationshintergrund immer wieder, dass sie mehr leisten müssen als ihre schweizerischen Schulkameraden. Sie müssen happige Anpassungsleistungen erbringen, vor denen ich grossen Respekt habe.
«Doch die von manchen ‹Integrations­spe­zialisten› immer wieder gepredigte Umwertung aller Werte – keine Noten, keine Leistung, viele aufpäppelnde Sonderbetreuungen» (Beat Kappeler) – und die Suggestion, dass dieses Land eigentlich rassistisch sei und es nicht gut mit einem meine, schadet ausgerechnet den Kindern unserer Migranten. Denn dadurch kommen sie plötzlich auf die Idee, dass sie ja im Grunde Opfer seien und für allfällige schulische Misserfolge nicht selber verantwortlich. Das glauben sie dann ein Leben lang und ­werden so zum Mündel der gutalimentierten Sozialindustrie, die sich ihrer gerne annimmt.

Der marokkanische Blogger Kacem El Ghazzali, mittlerweile eingebürgert, schilderte dies einmal treffend im Tages-Anzeiger: «Ich war einmal an einem Informationsanlass der Juso für Asylbewerber. Das war eine seltsame Erfahrung. Sie haben uns nur von den dunklen Seiten des Landes erzählt: Die SVP als grösste Partei sei gegen Migranten, es stünden Verschärfungen der Asylgesetzgebung bevor. Aber die Linke kämpfe dagegen an. Nach der Veranstaltung waren ich und meine Schicksalsgenossen verunsichert. Wir dachten, die Schweiz sei ein rassistisches Land und alle würden uns hassen.»

Ich möchte hier keineswegs das Problem des Rassismus banalisieren oder die hiesigen Probleme schönreden. Aber wir müssen aufpassen, dass der Kampf gegen Rassismus nicht zu einem beliebigen Imagemarketing à la Fifa verkommt, und es gilt, die Verhältnismäs­sigkeit zu wahren. Alles andere wäre kontraproduktiv.


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