1. April 2017

Schule ist keine Zukunftswerkstatt

Eine meiner Töchter probt in diesen Tagen für eine Theateraufführung in ihrer Schule so gut wie Tag und Nacht. Weil das so viel Zeit in Anspruch nimmt, hat die Schulleitung der jungen Theatertruppe sogar die Nachmittage frei gegeben. Am Abend kommt Paula jeweils nicht vor zehn Uhr nach Hause, und der eine oder andere Lehrer gratuliert ihr und dispensiert sie gar von einer Prüfung; ausgebildete Theaterpädagogen leiten die Schüler an und ­führen sie in eine Welt ein, die sie nicht kannten. Mit anderen Worten: Vorbildlich werden die Jugendlichen darin bestärkt, einmal etwas anderes zu tun als das Übliche, zu riskieren, dass sie vor lauter Publikum den Text verlieren, zu wagen, sich vielleicht lächerlich zu machen – und das alles aus eigenem Antrieb.
Bis die Ewigkeit grau wird, Basler Zeitung, 1.4. Kommentar von Markus Somm


Wäre da nicht die Tatsache, dass die jungen Theaterleute auch ihr Stück selbst ­verfasst haben, was mich am Familientisch zum Gespött machte, weil ich – natürlich der konservative Vater – das monierte: Warum nicht von den Besten lernen? Warum nicht Brecht aufführen oder Lessing oder meinetwegen Sartre? Warum müssen wir uns wieder irgendein Experimental­theater anhören, wo meine Tochter womöglich schreiend und ohne kohärenten Text über die Bühne rennt, während ihre Kollegen vorne auf dem Boden kriechen und Unverständliches von sich geben? Theater heute: Alle können alles nicht.
Kaum hatte ich diese ernsten Bedenken in ziviler Art und Weise vorgebracht, fielen fünf Kinder unterschiedlichen Alters über mich her, was ich gewohnt bin, auch wenn ich es nicht gutheisse, selbst in den eigenen vier Wänden – und selbst­verständlich fiel mir auch meine brillante Frau in den Rücken. Stur, eitel, altmodisch, unbelehrbar, Spinner: Auch diese Auswahl von ambivalenten Liebeserklärungen vonseiten meiner Familie konnten mich nicht von der Einsicht abbringen, dass ich recht hatte – was leider niemand in meiner Familie zugab. Auf dem Rückzug erzählte ich von meinen Theatererfahrungen in der Schule, als wir etwa die «Matrone von Ephesus» inszenierten, ein Fragment von Lessing auf Grundlage eines Textes von Petron, dem römischen Dandy. Ein Stück, das so fragmentarisch war, dass es eigentlich niemand verstand, mit anderen Worten: kein gutes Argument, um meine tobenden Kinder zu besänftigen. Sang- und klanglos ging ich unter.

Was kümmert uns Shakespeare?
Dabei meinte ich es ernst: Es gehört zu den intellektuellen Pestilenzen unserer Zeit, dass man das Vergangene unserer westlichen Kultur kaum schätzt, geschweige denn pflegt. Von einem Kanon der Literatur will niemand mehr etwas ­wissen, von alten Sprachen ohnehin nicht, Englisch statt Latein, besser noch Mandarin, um sich ja nicht dem Vorwurf auszusetzen, allzu Euro­zentrisch zu denken; jedermann traut sich zu, ein neuer Shakespeare zu sein, und kritzelt irgend­welche Drama-ähnliche Halbsätze hin, sofern ihm der Name Shakespeare überhaupt etwas sagt.

Jeder Schüler glaubt, es besser zu können als Schiller, mancher Lehrer schert sich darum, dass es auch vor ihm intelligente Pädagogen gab, zu viele Bildungspolitiker meinen, die Schule müsste den Schülern die Zukunft vermitteln statt der ­Vergangenheit. Sie irren sich. Wenn es einen Grund gibt, warum die Menschheit Fortschritte gemacht hat in den vergangenen Jahrtausenden, dann weil sie sich vorwiegend mit der Vergangenheit auseinandergesetzt und diese Erkenntnisse weitergegeben hat. Die echten Innovationen gelangen jenen, die äusserst genau wussten, was schon war. Es ist auffällig: Der grösste Teil der Weltliteratur besteht nicht aus Pamphleten der Zukunftsforschung, nicht aus Prognosen und ­Spekulationen, selten auch aus wirklich neuem Text oder neuem Stoff, sondern der grösste Teil der Weltliteratur sind Geschichten, die erzählen, wie es gewesen war. Ob Homer oder das Alte ­Testament: Es sind Geschichten aus alten, alten Zeiten, die von Dingen handeln, die eigentlich ­niemanden mehr zu kümmern bräuchten.

Und doch sind das die Geschichten, von denen die ­Menschen jahrhundertelang nicht genug hören konnten – bis in unserer Zeit eine Generation antrat, die alles besser zu wissen glaubte als alle anderen hundert Generationen vor ihnen. Sie hielten sich für progressiv, dabei waren sie nur dumm.

Der Zürcher Pädagoge Allan Guggenbühl hat mich auf diesen Gedanken gebracht, indem er mich darauf hinwies, dass die heutige, von ­Bildungsreformen verseuchte Schule genau auf diese Fehlannahme setzt: Man will die Zukunft vermitteln, Normatives beibringen wie «soziale Kompetenz» oder die Kunst der Selbstkritik.

Man klärt auf über erneuerbare Energien oder Drogengefahren und digitalisiert, wo immer möglich, man trainiert autonomes Lernen und Überleben im Internet, doch die Regeln der Vergangenheit, der Stoff, der seit Langem da ist, den es zu beherrschen gilt, bevor man die Zukunft meistert – er kommt immer weniger vor. Aus prinzipiellen Gründen, so Guggenbühl, eignet sich die Schule aber nicht als Zukunftswerkstatt, auch nicht als Vermittlerin der Dinge, die sein könnten oder sein sollten, weil die Schule auf Regeln angewiesen ist: Sie lehrt die Dinge, die sind.

Man kann einem ­Lehrer nicht auftragen, etwas zu lehren, das noch gar nicht existiert. Wenn es eine zutiefst konservative Institution gibt, dann die Schule, weil sie nur Erkenntnisse aus der Vergangenheit, gesicherte Fakten und bekannte Zahlen, bestehende und bewährte Texte, anerkannte Autoren und gültige Theorien weitergeben kann, sich aber stattdessen mit der Zukunft schwertut. Innovationen lassen sich nicht lehren, sobald man das meint, sind es gar keine mehr. Soziales Verhalten ohne bekannte Regeln einzuüben, ist unmöglich, weswegen es mehr Sinn macht, durchzusetzen, dass ein ­Schüler die Hausaufgaben pünktlich und sauber abliefert, als ihn im Sinne der Kompetenzschulung aufzufordern, sich Gedanken zu machen, warum es ihm nicht gelungen ist, an die Hausaufgaben zu denken.

Süsser Pudding
Wenige Tage nach dieser verheerenden Debatte am Familientisch erfahre ich von Max, einem meiner Söhne, dass seine Klasse nun die «Räuber» von Schiller liest. Halleluja. Doch Max findet die «Räuber» grauenhaft, eine Sprache wie süsser Pudding, eine Handlung, so realistisch wie ein schlechter Witz, ein Thema: die Revolution, das ihn lächerlich dünkt. Immerhin, Goethes «Faust» lasen sie zuvor, und den fand Max fantastisch.
Wir verwickeln uns in ein Gespräch über Schiller als politischer Autor, der seine Protago­nisten in den deutschen Wald schickte, um die Rebellion gegen alles und ohne Grund zu proben, ein Thema, so sage ich ihm, das doch gerade die ­Jungen immer wieder faszinieren müsste, ohne dass ich, ich denke an die nächsten Wahlen, ­meinen Sohn hätte dazu auffordern wollen – und Max scheint ergriffen. Triumphiere ich? «Und diese Flamme brenne in deinem Busen, bis die Ewigkeit grau wird!», sagt Karl Moor in den ­«Räubern». Busen? Süsser Pudding.

Natürlich besuchen wir die Premiere von ­Paulas Stück. 


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