6. November 2016

Homeschooling wird beliebter

Thalheim an der Thur ist ein 900-Seelen-Dorf im Norden des Kantons Zürich, mit viel Acker- und Weideland und einem bunten Primarschulhaus. 88 Kinder gehen dort zur Schule und in den Kindergarten. Doch längst nicht alle Eltern wollen ihren Nachwuchs den örtlichen Lehrern anvertrauen. Fünf Familien setzen auf Homeschooling. Damit weist das Dorf die höchste Dichte dieser Schulform, die im ganzen Kanton wieder beliebter wird, auf.
Das sorgt im Dorf für Spannungen. In der lokalen «Andelfinger Zeitung» beschwerte sich Schulpflegepräsidentin Cornelia Schumacher im letzten Herbst, dass gewisse Eltern «einfach ihr Ding durchziehen», wenn ihnen Entscheide von Experten nicht passten. Und weiter: «Ich persönlich würde das meinen Kindern nicht antun.» Prompt hielt Gemeinderatskollege Guido Roggensinger dem entgegen: «Einer Amtsträgerin steht es nicht zu, sich in die Privatsphäre der Familien und das Elternrecht auf Erziehung einzumischen.» Seinen Ärger versteht, wer weiss, dass er seine Kinder aus der Schule genommen hat. «Wir mussten die Notbremse ziehen», sagt er.
In der Regel erfüllt Homeschooling die Lernziele, Bild: Michele Limina
Ein Dorf verliert seine Schüler, NZZaS, 6.11. von René Donzé

In der Schule sei das Vermitteln von Wissen in den Hintergrund getreten. Die Förderung der Kinder fehle, die Lehrer seien bloss noch Lerncoaches. Die Kinder müssten sich vieles selber beibringen. «Mit meinen Kindern funktioniert das nicht», sagt er. Ähnliche Erfahrungen machte die Familie Hefti. «Aufgrund des individualisierten Unterrichtsstils waren unsere Kinder überfordert», sagt Wilhelm Hefti.

Eine Minischule
Roggensingers und Heftis haben eigens ein Schulzimmer in einem Nebengebäude eingerichtet, in dem ihre vier Kinder seit gut einem Jahr von verschiedenen Lehrern unterrichtet werden. Bei bis zu fünf Kindern gilt auch das als Homeschooling. Dort erleben die Kinder nun einen klar geführten Unterricht nach genauem Stundenplan. Die Kinder blühten regelrecht auf. Sie hätten wieder Boden unter den Füssen.

Auch Rahel Huber hat ihre beiden Kinder aus der Schule genommen, weil sie mit dem System unzufrieden war, doch ihr war das System nicht etwa wie den anderen beiden Familien zu lasch, sondern zu rigide. «So löscht es den Kindern ab», sagt sie. «Ich will nicht, dass sie ihren natürlichen Lerntrieb verlieren.» Das freie Lernen bringe die grössten Erfolge, sagt sie. Sie ist mit den Kindern oft unterwegs, wenn nicht gerade die eigens engagierte Lehrerin vorbeikommt. «Zahlenreihen muss ich mit den Kindern nicht am Schulpult lernen, das geht auch draussen gut.»

«Man kann es nicht allen recht machen», sagt die Thalheimer Schulleiterin Sandra Blatter. Dass ihr gleich so viele Schüler abhandengekommen sind, stelle sie vor organisatorische Probleme: «Ich haben dann weniger Stellenprozente zum Verteilen.» In einer derart kleinen Schule fällt jedes Prozent ins Gewicht. Gegen alternative Schulformen habe sie aber nichts einzuwenden, betont sie.

Bibelverse lernen
«Die Ansprüche der Eltern an die Schule gehen zunehmend auseinander», sagt Marion Völger, Chefin des Zürcher Volksschulamtes. Das Amt überprüft jährlich, ob die Homeschooler die Lernziele erreichen. Die Ergebnisse dieser Abklärungen seien meist gut. «Eltern, die ihre Kinder zu Hause schulen, sind grundsätzlich sehr daran interessiert, dass ihre Kinder eine gute Bildung erhalten.»

Jael Bischof sitzt im Haus hoch über dem Dorf. Sie hat ihre zweijährige Tochter auf den Knien, die Zehnjährige neben sich. An ihnen geht der Schulknatsch im Dorf vorbei. Sie vertiefen sich in die Konjugation lateinischer Verben. Dieweil trainiert die andere Tochter Kopfrechnen, und die Sechsjährige studiert ihren Wochenplan. Darauf steht unter anderem «Bibelverse lernen». Die Familie Bischof ist neu zugezogen, hat ihre Kinder schon immer selber unterrichtet. Nicht aus religiösen Gründen, wie Bischof betont, sondern aus dem Bedürfnis, voll für die Kinder da zu sein.

Zugezogen ist auch Damaris Bühler, die eine Tochter und einen Sohn zu Hause schult: «Wenn man die Kinder zu früh abgibt, orientieren sie sich zu fest an Gleichaltrigen», sagt sie. «Dabei brauchen sie in erster Linie stabile Beziehungen zu Erwachsenen.» Zudem sollten die Kinder viel Zeit für freies Spiel haben, weil das für ihre Entwicklung zentral sei. Der Volksschule steht sie eher kritisch gegenüber. Sie ist im Unterstützungskomitee für die Initiative «Lehrplan vors Volk», die im Kanton Zürich die Einführung des Lehrplans 21 verhindern will.


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