Seit mehreren Monaten hält die Corona-Pandemie die Welt in Atem. Die ergriffenen Massnahmen wirken nicht immer wie erhofft und ziehen Kollateralschäden nach sich, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Denn bei aller Dringlichkeit, die Gesundheit der Menschen zu schützen: Gesundheit umfasst neben der körperlichen Unversehrtheit auch eine psychische und soziale Komponente, und alle drei hängen voneinander ab. Gleiches gilt im übertragenen Sinn für Systeme wie die Familie, die Wirtschaft oder die Schulen. Blickt man auf die zuletzt Genannten, so mehren sich die Hinweise, dass eine Bildungskatastrophe droht.
Der schulische Corona-Stotterbetrieb erzeugt viel Leerlauf und soziale Ungerechtigkeit. Die Hinweise auf eine Bildungskatastrophe mehren sich, NZZ, 19.2. von Klaus Zierer
Immer mehr Studien
zur Wirkung des ersten Lockdowns im letzten Jahr belegen deutlich, dass die
Lernleistung von Kindern und Jugendlichen insgesamt zurückgegangen ist. Das
Homeschooling hat weltweit nicht so funktioniert, wie man es anfänglich in
einer Digitalisierungseuphorie erhofft hatte. Dies gilt flächendeckend, also
sowohl für die leistungsstarken als auch für die leistungsschwachen Lernenden
in den Kernfächern. Bei den Nebenfächern wie Kunst, Musik und Sport sieht es
noch schlechter aus, denn sie wurden kurzerhand aus den Stundenplänen
gestrichen. Die Schule ist vom Bildungsort zum Lernort verkümmert, und nicht
einmal dieser funktioniert wie erhofft.
Brillant im Nichtstun
Gleichzeitig warnen
Schulpsychologen davor, dass auch das Lernverhalten von Schülerinnen und
Schülern Schaden nimmt. Denn bedingt durch soziale Vereinsamung und schulische
Zwangsabstinenz hat der Medienkonsum derart zugenommen, dass viele das Lernen
verlernt haben. Überspitzt gesprochen: Das Einzige, was viele in der Krise
gelernt haben, ist, nichts zu tun. Hält man sich vor Augen, dass Lernstrategien
mit der wirksamste Faktor für Schulerfolg sind, dann ist es Zeit zu handeln.
Immer mehr Lernende brauchen eine Beratung, um wieder zurück ins Lernen und
manchmal sogar zurück ins Leben zu finden.
Der wichtigste Grund für Lernende, in die Schule zu gehen, ist nicht die
Schule, nicht das Fach und nicht die Lehrperson: Es sind die Gleichaltrigen.
Beide Effekte
schlagen sich besonders in bildungsfernen Milieus nieder: Kinder und
Jugendliche aus Elternhäusern, die ein geringes Einkommen haben oder einen
niedrigeren Bildungsabschluss, sind die grossen Verlierer. Zweifelsfrei war
gerade in Deutschland die Bildungsschere immer schon beachtlich, was nicht
zuletzt mit der Vielfalt der kulturellen Prägung in den Elternhäusern zu tun
hat. Aber die schulischen Massnahmen, die zur Eindämmung der Corona-Pandemie
ergriffen wurden, haben diese Situation bereits heute massiv verschärft und
verschärfen sie noch weiter. Die Bildungsungerechtigkeit nimmt also zu.
Und schliesslich hat
all das Gesagte ökonomische Folgen. Denn der Zusammenhang zwischen dem
Bildungsniveau einer Gesellschaft und der Wirtschaftskraft eines Landes ist
bekannt: In Ländern mit einem hohen Bildungsniveau wächst die Wirtschaft
schneller als in Ländern mit einem niedrigen Bildungsniveau. Bildung ist also
nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Ökonomie insgesamt
entscheidend. Erste Schätzungen gehen davon aus, dass die Schulschliessungen
und der damit verbundene Distanzunterricht im letzten Jahr bereits massive
Einschnitte zur Folge haben. Angesichts des anhaltenden Stotterbetriebs werden
diese nicht nur verhärtet, sondern noch weiter ausgebaut.
Kein Weiter-so
Man kann es also
drehen und wenden, wie man möchte: Die letzten Wochen und Monate haben dem
Bildungssystem geschadet. Die getroffenen Massnahmen haben im Vergleich zu den
Jahren davor negative Effekte auf die Bildung. Somit besteht kein Zweifel: Eine
Bildungskatastrophe droht.
Was also tun? Ein
Weiter-so kann es nicht sein. Weder die Digitalisierung ist der Heilsbringer in
der Krise noch das ständige Schliessen von Schulen. Zu sehr greift beides in
die pädagogische Grundeinsicht ein: Bildung ist ein sozialer Prozess. Der
Mensch braucht den Menschen im Hier und Jetzt, und er braucht ihn analog, weil
er digital nicht abbildbar ist. Der wichtigste Grund für Lernende, in die
Schule zu gehen, ist nicht die Schule, nicht das Fach und nicht die Lehrperson:
Es sind die Gleichaltrigen. Neuste neurologische Untersuchungen zeigen sogar,
dass Aufmerksamkeit und Konzentration um ein Vielfaches höher sind, wenn sich
Lernende gemeinsam im Klassenraum befinden, anstatt zu Hause vor dem Rechner zu
sitzen.
Aus pädagogischer
Sicht kann es daher nur heissen: so schnell wie möglich die Schulen wieder
öffnen und so viel Präsenz wie möglich. Alle weiteren Massnahmen müssen in
diese Richtung weisen. Da ohne Frage Hygienestandards wichtig und finanzielle
Ressourcen begrenzt sind, ist einer Aufrüstung der Klassenzimmer mit
Hygienevorkehrungen der Vorrang vor einer digitalen Aufrüstung der Kinderzimmer
zu gewähren.
Drei Massnahmen
Bis das so weit ist,
sind drei Massnahmen zu ergreifen:
Erstens ist das
Homeschooling endlich pädagogisch professionell zu gestalten. Sind im ersten
Lockdown vielerorts Lehrpersonen untergetaucht, ist im zweiten Lockdown das
andere Extrem zu erleben: Lernende werden für mehrere Stunden am Tag mit
monotonen Videokonferenzen an die Geräte gefesselt. Bei aller Freude über das
Funktionieren der Technik, die Pädagogik darf nicht vergessen werden: Klarheit,
Herausforderung, Motivierung und Rhythmisierung sind wichtiger denn je. Allen
voran bleibt die Beziehungsarbeit als wichtigste Aufgabe, das heisst Feedback
in alle Richtungen und so oft es geht. Zudem ist Masshalten angesagt,
insbesondere bei den Lehrplaninhalten. Diese können zwar in einer falsch
verstandenen digitalen Einbahnstrasse schnell gelehrt werden, aber gelernt
werden sie deswegen noch lange nicht. Eine Entrümpelung der Lehrpläne ist somit
unabdingbar, was übrigens nicht erst seit der Corona-Pandemie eine berechtigte
Forderung ist.
Zweitens ist durch
eine Neuauflage des Schulfernsehens eine Kompensation möglich. Dieses wurde
bereits im letzten Jahrhundert forciert, um die damals drohende
Bildungskatastrophe einzudämmen. Trotz allen pädagogischen Bedenken gegenüber
dem Fernsehen könnten die digitalen Möglichkeiten es revolutionieren: Die
Anschlüsse sind vorhanden, und die Systeme laufen stabil. Durch eine kluge
Rhythmisierung in 20-minütigen Sequenzen und eine didaktische Aufbereitung auf
höchstem Niveau (mit Lernstandserhebungen und -tests) können die
Mindeststandards in allen Fächern und allen Jahrgangsstufen vermittelt werden.
Lernende hätten so
eine Orientierung, Lehrpersonen eine Unterstützung und Eltern eine Entlastung.
Natürlich geht auch das nicht von heute auf morgen. Aber: Es gibt so viele
engagierte Lehrpersonen. Warum nicht diese zusammenschliessen, um in der Kürze
der Zeit ein solches Notprogramm auf die Beine zu stellen? Die Bildungspolitik
müsste die Führung übernehmen und endlich ihre Stärke unter Beweis stellen.
Längerfristig könnte das Schulfernsehen ausgebaut und mit digitalen Tools
ergänzt werden, so dass es auch nach der Krise hilfreich sein kann – zur
Differenzierung und Förderung, zur Vorbereitung und Nachbereitung von
Unterricht.
Und drittens sind
Sommerschulen eine Lösung, entweder in den letzten Schulwochen oder in den
Schulferien – von Lehrpersonen basierend auf den Lernstandserhebungen empfohlen
beziehungsweise verordnet. So könnten vor allem Lernende aus bildungsfernen
Milieus schnell und einfach erreicht werden. Das Notprogramm des
Schulfernsehens liesse sich hier erneut nutzen und integrieren. Eine Begleitung
durch pädagogisches Fachpersonal, das dafür entsprechend zu honorieren ist,
wäre notwendig und wäre die bildungspolitische Herausforderung. Eine
Digitalisierung, die sich an der Pädagogik orientiert – und nicht die sinnlose
Umkehrung nach dem Motto: «Hauptsache, digital, weil digital ist modern.»
Sicherlich hätte das
eine oder andere schon längst passieren können, ja müssen. Aber lieber spät als
nie. Denn jeder Schritt, um die drohende Bildungskatastrophe abzufedern, ist
ein Schritt in die richtige Richtung.
Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.
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