27. Februar 2021

Dringend spätere Selektion

Die «Bildungsrevolution» ist unvollendet. Auf die «Ausschöpfung der Begabtenreserven» der bildungsfernen Schichten wartet man vergeblich. Das Versprechen der Chancengleichheit gehört endlich eingelöst.

Das Bildungssystem orientiert sich an einer Dreiklassengesellschaft, NZZ, 25.2. von Markus Zürcher

Seit 1848 hält die Schweiz verbissen an der Dreiteilung der Volksschule fest: Primarschule, Sekundarschule, Gymnasium, was die althergebrachte Dreiteilung der Klassen spiegelt – Bauern sowie Arbeiter und Handwerker, Kaufleute und Beamte, akademische Elite. Seit langem entspricht dies weder dem Bedarf einer Wissens- und Informationsgesellschaft noch dem Arbeitsmarkt.

In allen Bereichen, insbesondere zunehmend für hochqualifizierte Stellen, mangelt es an Arbeitskräften. Diese Situation erfordert nicht Selektion, sondern Förderung. Obwohl man weiss, dass sich Kinder und Jugendliche nach Alter sehr unterschiedlich entwickeln, wird frühzeitig selektioniert. Ihre Potenziale und Kapazitäten werden so nicht erkannt oder abgewürgt.

Ins Humanvermögen investieren

Diese sozial bedingte Auslese einer vergangenen Gesellschaft entspricht auch nicht der demografischen Situation: Die Geburtenrate hat sich seit dem Pillenknick in den 1960er Jahren auf tiefem Niveau stabilisiert. Der Anteil der älteren Bevölkerung wird über die nächsten beiden Dekaden kontinuierlich zunehmen.

Dies heisst, dass wir weniger Hände haben, jedoch mehr Hände benötigen: Der Aufwand in der Betreuung und der Pflege nimmt zu. Im Gesundheitssektor haben wir bereits zu wenig Arbeitskräfte. Immer deutlicher zeigt sich, dass wir stärker in das Humanvermögen investieren sollten.

Die Akademien der Wissenschaften Schweiz haben bereits 2009 eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich mit der Zukunft der Bildung in der Schweiz befasst. In mehreren Berichten zeigte sie auf, wie der Weg von der Selektion zur Integration aussehen könnte.

Den zuständigen Behörden, der Konferenz der Erziehungsdirektoren und dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation missfielen diese Analysen: Sie monierten, dass der Föderalismus im Bildungssystem nicht respektiert und nicht eine wissenschaftliche, sondern eine politische Agenda verfolgt werde.

In einem Bericht von 2018 setzte sich auch der Schweizerische Wissenschaftsrat vertieft mit der sozialen Selektion auseinandergesetzt. Wolf Lindner, ein renommierter und pragmatisch denkender Politologe und damals Mitglied des Wissenschaftsrates konstatierte bereits 2015 in dieser Zeitung, dass die Bildungsrevolution, die vor einem halben Jahrhundert mit Expertenberichten – nach ihren Kommissionsvorsitzenden «Bericht Hummler» (1959), «Schultz» (1963) und «Labhardt» (1964) genannt – eingeleitet wurde, bis heute unvollendet geblieben sei. – Nicht eingelöst wurde das Versprechen einer «Ausschöpfung der Begabtenreserven» der bildungsfernen Schichten – und damit dasjenige der Chancengleichheit. Die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrates nahm die Empfehlungen des Wissenschaftsrats 2019 in einer Motion auf, die vom Nationalrat angenommen, vom Bundesrat und dem Ständerat aber abgelehnt wurde.

Bisher sind somit politische Bemühungen versandet, und auch die neue Botschaft des Bundesrates zur Bildung, Forschung und Innovation für die Jahre 2021–2024 nimmt die Anliegen nur schwach auf: Sie betont wiederum die Zuständigkeit der Kantone für Bildungsfragen und unterstreicht die formale Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit.

Frühe Selektion ist dysfunktional

Die Dysfunktionalität der frühen Selektion zeigt die kürzlich von den Akademien Schweiz publizierte, empirische Untersuchung zum «Tertiarisierungsdruck». Die Umstellung von einem System der Selektion zu einem System der Förderung wäre einfach zu bewerkstelligen.

Die meisten Privatschulen tun dies schon lange und fördern Kinder und Jugendliche vom Kindergarten bis zur neunten Klasse konsequent gemäss ihren Fähigkeiten, Talenten, Potenzialen und Kapazitäten.

Die Selektion erfolgt in diesem Modell erst später. Sie liegt am Ende der obligatorischen Schulzeit bei den aufnehmenden Institutionen, den weiterführenden Schulen und Lehrbetrieben – diese kennen die Anforderungen und können eine funktionierende Allokation gewährleisten. So könnte der demografischen Verschiebung besser Rechnung getragen, dem Bedarf des Arbeitsmarkts entsprochen und die Chancengleichheit erhöht werden.

Es ist höchste Zeit, dass die zuständigen Organe der Kantone und des Bundes, insbesondere die Konferenz der Erziehungsdirektionen und das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, im Interesse der Wirtschaft und der Gesellschaft mit einfachen Massnahmen auf die demografische Entwicklung reagieren und die Resilienz stärken.

Markus Zürcher ist Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW).

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