Die «Bildungsrevolution» ist unvollendet. Auf die «Ausschöpfung der Begabtenreserven» der bildungsfernen Schichten wartet man vergeblich. Das Versprechen der Chancengleichheit gehört endlich eingelöst.
Das Bildungssystem orientiert sich an einer Dreiklassengesellschaft, NZZ, 25.2. von Markus Zürcher
Seit 1848 hält die Schweiz verbissen an der Dreiteilung der
Volksschule fest: Primarschule, Sekundarschule, Gymnasium, was die
althergebrachte Dreiteilung der Klassen spiegelt – Bauern sowie Arbeiter und
Handwerker, Kaufleute und Beamte, akademische Elite. Seit langem entspricht
dies weder dem Bedarf einer Wissens- und Informationsgesellschaft noch dem
Arbeitsmarkt.
In allen Bereichen, insbesondere zunehmend für
hochqualifizierte Stellen, mangelt es an Arbeitskräften. Diese Situation
erfordert nicht Selektion, sondern Förderung. Obwohl man weiss, dass sich Kinder
und Jugendliche nach Alter sehr unterschiedlich entwickeln, wird frühzeitig
selektioniert. Ihre Potenziale und Kapazitäten werden so nicht erkannt oder
abgewürgt.
Ins Humanvermögen investieren
Diese sozial bedingte Auslese einer vergangenen Gesellschaft
entspricht auch nicht der demografischen Situation: Die Geburtenrate hat sich
seit dem Pillenknick in den 1960er Jahren auf tiefem Niveau stabilisiert. Der
Anteil der älteren Bevölkerung wird über die nächsten beiden Dekaden
kontinuierlich zunehmen.
Dies heisst, dass wir weniger Hände haben, jedoch mehr Hände
benötigen: Der Aufwand in der Betreuung und der Pflege nimmt zu. Im
Gesundheitssektor haben wir bereits zu wenig Arbeitskräfte. Immer deutlicher
zeigt sich, dass wir stärker in das Humanvermögen investieren sollten.
Die Akademien der Wissenschaften Schweiz haben bereits 2009
eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich mit der Zukunft der Bildung in der
Schweiz befasst. In mehreren Berichten zeigte sie auf, wie der Weg von der
Selektion zur Integration aussehen könnte.
Den zuständigen Behörden, der Konferenz der
Erziehungsdirektoren und dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und
Innovation missfielen diese Analysen: Sie monierten, dass der Föderalismus im
Bildungssystem nicht respektiert und nicht eine wissenschaftliche, sondern eine
politische Agenda verfolgt werde.
In einem Bericht von 2018 setzte sich auch der
Schweizerische Wissenschaftsrat vertieft mit der sozialen Selektion
auseinandergesetzt. Wolf Lindner, ein renommierter und pragmatisch denkender
Politologe und damals Mitglied des Wissenschaftsrates konstatierte bereits 2015
in dieser Zeitung, dass die Bildungsrevolution, die vor einem halben
Jahrhundert mit Expertenberichten – nach ihren Kommissionsvorsitzenden «Bericht
Hummler» (1959), «Schultz» (1963) und «Labhardt» (1964) genannt – eingeleitet
wurde, bis heute unvollendet geblieben sei. – Nicht eingelöst wurde das
Versprechen einer «Ausschöpfung der Begabtenreserven» der bildungsfernen
Schichten – und damit dasjenige der Chancengleichheit. Die Kommission für
Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrates nahm die Empfehlungen des
Wissenschaftsrats 2019 in einer Motion auf, die vom Nationalrat angenommen, vom
Bundesrat und dem Ständerat aber abgelehnt wurde.
Bisher sind somit politische Bemühungen versandet, und auch
die neue Botschaft des Bundesrates zur Bildung, Forschung und Innovation für
die Jahre 2021–2024 nimmt die Anliegen nur schwach auf: Sie betont wiederum die
Zuständigkeit der Kantone für Bildungsfragen und unterstreicht die formale
Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit.
Frühe Selektion ist dysfunktional
Die Dysfunktionalität der frühen Selektion zeigt die
kürzlich von den Akademien Schweiz publizierte, empirische Untersuchung zum
«Tertiarisierungsdruck». Die Umstellung von einem System der Selektion zu einem
System der Förderung wäre einfach zu bewerkstelligen.
Die meisten Privatschulen tun dies schon lange und fördern
Kinder und Jugendliche vom Kindergarten bis zur neunten Klasse konsequent
gemäss ihren Fähigkeiten, Talenten, Potenzialen und Kapazitäten.
Die Selektion erfolgt in diesem Modell erst später. Sie
liegt am Ende der obligatorischen Schulzeit bei den aufnehmenden Institutionen,
den weiterführenden Schulen und Lehrbetrieben – diese kennen die Anforderungen
und können eine funktionierende Allokation gewährleisten. So könnte der
demografischen Verschiebung besser Rechnung getragen, dem Bedarf des
Arbeitsmarkts entsprochen und die Chancengleichheit erhöht werden.
Es ist höchste Zeit, dass die zuständigen Organe der Kantone
und des Bundes, insbesondere die Konferenz der Erziehungsdirektionen und das
Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, im Interesse der
Wirtschaft und der Gesellschaft mit einfachen Massnahmen auf die demografische
Entwicklung reagieren und die Resilienz stärken.
Markus Zürcher ist Generalsekretär der
Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW).
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