März 2020, die Schülerinnen und Schüler des Deutschlehrers Stefan Hofer trudeln langsam ein vor ihren Bildschirmen: Fernunterricht an einem Dienstagmorgen im Shutdown, an der Kantonsschule Enge in Zürich genauso wie an allen übrigen Schulen im Land. Die Klasse kämpft mit technischen Problemen. Kommunikationsplattformen wie Teams und Zoom sind damals noch Neuland.
Mehr Miteinander, mehr vernetztes Denken: Hat die Corona-Pandemie unsere Schulen für immer verändert? NZZ, 3.1. von Robin Schwarzenbach
Und es zeigt sich, dass der direkte Austausch, das Unmittelbare zwischen den Teenagern untereinander und der Lehrperson durch nichts zu ersetzen ist. Auch wenn die Videoschaltung endlich steht. Auch wenn sich Hofer um seine Klasse bemüht und die erste Lektion des Tages nicht dem Unterricht, sondern viel wichtigeren Fragen gewidmet ist: Wie geht es den Schülern? Fühlt sich jemand einsam, die ganze Zeit allein vor dem Computer?
Coaching statt Schulstoff, Unterstützung bieten statt Leistung verlangen. Ein Gespür haben für die Gemütslagen der Kinder und Jugendlichen: Solche Qualitäten waren im Frühling besonders gefragt, mehr noch als sonst schon.
Das Virus rückt näher
Die Corona-Pandemie ist eine extreme Erfahrung für Schüler, Lehrer, Eltern, Schulleiterinnen und Bildungspolitiker. Der Shutdown hat Kraft gekostet. Und die Krise ist noch nicht vorbei. Die Fallzahlen sind weiterhin hoch, Corona rückt näher, auch an den Schulen. Trotz Abstandsregeln, Maskenpflicht ab der Oberstufe und Plexiglas in vielen Schulzimmern.
Fast jede Lehrerin, fast jeder Schüler kennt mittlerweile jemanden, der infiziert war oder vorsichtshalber in Quarantäne musste – und daher mit Materialien und Aufgaben versorgt werden musste. Von Massnahmen für die übrigen Schüler und wechselnden Empfehlungen ganz zu schweigen: Quarantäne? Für wen – die ganze Klasse oder nur die Sitznachbarn?
Im Aargau starten Gymnasiasten mit einer Woche Fernunterricht ins neue Jahr, wie der Regierungsrat am Freitagabend vor den Weihnachtsferien überraschend bekanntgab. In Zürich wissen Mittelschulen, Gymnasiasten und Eltern immerhin bereits seit Anfang Dezember, dass nach den Festtagen eine Vertiefungswoche zu Hause ansteht – ein Mini-Shutdown sozusagen, um einer allfälligen Weiterverbreitung des Virus nach den Feierlichkeiten in der Familie vorzubeugen. Und Achtung: Die hochansteckende Variante aus Grossbritannien ist bereits unter uns!
Gelassen bleiben – trotz allem
Schule im Corona-Modus, Lehrer und Eltern im Dauerstress. Der Abwehrkampf gegen eine potenziell tödliche Krankheit macht es schwer, gelassen zu bleiben. Zumal die Pandemie eine fragwürdige Entwicklung der vergangenen Jahre zu verstärken scheint: Studien zeigen, dass in Deutschland und Österreich noch mehr Schüler in die Nachhilfe geschickt werden als in vergangenen Jahren.
Ja nichts verpassen! Die Gymi-Prüfung um jeden Preis bestehen!
Es wäre kaum überraschend, wenn beflissene Eltern in der Schweiz ähnlich reagieren würden. Und verständlich. Die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm sagt: «Ich würde es genauso machen – auch, um mich als Mutter von Lehreraufgaben zu entlasten.» Nur: Wir sollten aufpassen, dass wir unsere Kinder mit unseren grundsätzlich berechtigten, aber alles dominierenden und manchmal übertriebenen Sorgen und Ängsten nicht anstecken. Das wäre kontraproduktiv.
Stamm sagt: «Kinder sind widerstandsfähiger als Erwachsene. Sie können sich anpassen, sie können ihren Corona-Alltag bewältigen.» Wenn man sie machen lässt, ihnen Vertrauen schenkt und selber Zuversicht ausstrahlt – trotz allem.
Wir sollten auch dann nicht die Hände verwerfen, wenn eine Studie der Universität Zürich feststellt, dass Primarschüler mit dem (plötzlich digitalisierten) Fernunterricht im Frühling mehr Mühe hatten als ältere Schüler. Der Shutdown dürfte das sozioökonomische Gefälle verstärkt haben. Kinder aus bildungsnahen Kreisen kamen eher mit, da sie von ihren Eltern eher unterstützt werden – und für Aufgaben am Bildschirm eher über einen Computer verfügen.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Die Corona-Krise hat lediglich deutlich gemacht, dass Chancengleichheit in der Bildung weiterhin ein fernes Ziel ist.
Selbständig arbeiten am Tablet
Vor allem aber sollten solche Untersuchungen nicht gegen digitalisierten Unterricht an sich – und damit gegen die Schule der Zukunft – verwendet werden. Trotz nachvollziehbarem Frust von überforderten Lehrern und Eltern.
Das findet auch der Zürcher Professor Urs Moser, der an der erwähnten Studie mitgearbeitet hat. Er sagt: «Wir wissen noch zu wenig über diese neue Art des Unterrichts.» Tablet-basierte Lehrmittel wie die Französisch-Reihe «Dis donc!» für die obere Primar- und die Sekundarstufe gibt es erst seit ein paar Jahren. Die Schulen haben gerade erst begonnen, die Möglichkeiten des Digitalen zu entdecken.
Französisch-Aufträge am Tablet bringen den Schülern bei, ihre Wochenaufgaben selbständig anzugehen – ein wichtiges Lernziel gemäss Lehrplan 21. Die einen kommen alleine zurecht, so dass sich die Lehrerin im Klassenzimmer auf die anderen konzentrieren kann und Zeit hat für Einzelfragen. Sie kann die guten Schüler auch beauftragen, den schwächeren zu helfen (soziale Kompetenzen).
Kritisches und vernetztes Denken
Im Gymnasium lässt sich kritisches Denken mit digitalen Inhalten üben, die politische Kommunikation in sozialen Netzwerken und einen – seriösen? – Umgang mit Quellen illustrieren. Stefan Hofer hat das berüchtigte Video des Youtubers Rezo gegen die CDU für ein Mündlich-Projekt im Deutschunterricht thematisiert: Zum Stimmrechtsalter 16 mussten die Jugendlichen kurze Pro- und Contra-Videos aufnehmen und ihre Argumente ähnlich wie Rezo mit Fakten unterlegen und diese in den Clips auch visuell ins Bild rücken. Dann traten die Filmchen vor der Klasse gegeneinander an. Bewertet wurden neben inhaltlichen Fragen auch Intonation, Tempo und Klarheit des mündlichen Ausdrucks.
Stefan Hofer, 48, gehört zu jenen Lehrern, die nicht erst seit der Corona-Krise mit neuen Elementen experimentieren und sich dabei auch an der Medienwelt der Jugendlichen orientieren. Den Youtuber Rezo kannten die meisten seiner Schüler bereits, wahrscheinlich noch vor ihm. Der Deutschlehrer hat verstanden, dass «digital skills» für Maturanden wichtig sind – vor, während und nach der Pandemie. Im Studium (die Hochschulen erwarten solche Fertigkeiten von ihren Studierenden), aber vor allem auch im Hier und Jetzt der Teenager.
Wie verschaffen sich Gymnasiasten einen Überblick über die Punischen Kriege? Richtig, sie googeln.
Hofer sagt: «Lehrer stehen in Konkurrenz zum Internet, wir sind längst nicht mehr die einzige Quelle.» Digitales Lernen bedeutet auch dialogisches Lernen. Die Schüler beschäftigen sich nicht nur mit Literatur, sie können sich auch mit eigenen Beiträgen am Bildschirm einbringen in den Unterricht. Beide Seiten sollen reflektieren, wie man sich in der Unendlichkeit des World Wide Web zurechtfinden kann, die Jugendlichen genauso wie die Lehrer.
Und wie wäre es mit Projekten mit anderen Klassen, anderen Fächern – wo könnte die Schule vernetztes Denken besser üben als im Netz?
Die Aufbruchstimmung nicht verpuffen lassen
Die Corona-Krise ist eine einmalige Chance. Digitalisierung sollte sich nicht länger um technische Fragen drehen. Teams, Zoom oder Lernplattformen wie Padlet oder Moodle sind wie Telefonapparate oder Bundesordner: nützlich, aber nur Mittel zum Zweck. Lehrer, die ihren Laptop noch immer nicht bedienen können und sich damit zum Gespött im Klassenzimmer machen, sind definitiv auf dem Holzweg. Wie wollen wir unsere Kinder auf die Zukunft vorbereiten, wenn wir selber alles noch genauso machen wie in den neunziger Jahren?
Digitalisierung sollte auch nicht länger als Bedrohung verstanden werden. Schule bleibt Beziehungsarbeit. Lernen und Unterrichten bleiben anstrengend. Lehrerinnen und Lehrer braucht es nach wie vor. Sie geben Orientierung, in der Pandemie genauso wie im virtuellen Raum. Der Shutdown hat Vorbehalte abgebaut. Die meisten Schulen wollen dranbleiben, viele wollen ihre Lehrkräfte weiterbilden. Diese Aufbruchstimmung sollte die Politik nicht verpuffen lassen. Engagierte Schulen und Lehrer verdienen Unterstützung in diesem Prozess.
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