9. Dezember 2020

Wir werden je länger, je dümmer

Das Zeitalter des Wissens ist vorbei», durchfuhr es mich. Ich stand da, in der Hand das Smartphone, im Kopf die Frage der Kinder nach den Planeten des Sonnensystems. Stand da und googelte, was ich doch eigentlich wusste. Lag es an diesem «eigentlich»? Daran, dass Kinder sich alles einprägen – auch Fehlinformationen? Oder lag es schlicht an der digitalen Omnipräsenz von Antworten, allzeit griffbereit, verfügbar und bequem? Immer öfter greifen wir zu Smartphone und Computer, wenn es um Fakten, Rechtschreibung und Routen geht. Warum? Verlassen wir uns lieber auf Google als auf unser Gehirn?

Die Banalität des Blöden, NZZaS, 6.12. von Anna Kardos

Schliesslich wurde die Generation der heute 40-Jährigen noch in eine Welt ohne Internet hineingeboren. Als Kind kannte man die Telefonnummern sämtlicher Freundinnen auswendig, genauso die Abfahrtszeiten von Tram und Bus. Etwas später an der Kantonsschule verachtete man zwar das Auswendiglernen um des Auswendiglernens willen (schliesslich war man jung und wild), beugte sich diesem aber trotzdem (die Wildheit hatte angesichts des Latein-Schwerpunkts offenbar Grenzen). Stellvertretend belächelten wir den Mathelehrer, der bei «Wetten, dass . .?» das Saalpublikum nach Geschlecht memorierte und als «Frau-Mann-Frau-Frau . . .» wieder aufsagte. Welch sinnlose Verschwendung von Gehirnmasse! 

Tieferen Eindruck hinterliess die Deutschlehrerin, die uns einbläute: «Lernt Gedichte! Solltet ihr je in die Lage kommen, alles zu verlieren, habt ihr wenigstens Gedichte im Kopf!» Das klang spannend. Wir malten uns aus, wie wir in Dunkelhaft festgehalten wurden oder blind darniederlagen. So gesehen, erschien Wissen durchaus als existenziell.

Schon für die Generation unserer Grosseltern war angesichts von Krieg und Kommunismus Wissen eine Art Reichtum gewesen. Es galt: «Was man im Kopf hat, kann einem niemand nehmen.» Adäquat inszeniert wurde Bildung sogar zum Statussymbol. So setzte man sich in sozialistisch regierten Ländern statt mit einer französischen Tasche in der Armbeuge mit einem französischen «Pardon» auf den Lippen vom vermeintlichen Pöbel ab, und ein enzyklopädisches Wissen verlieh seinem Besitzer den Adel des Geistes – der reale war abgeschafft.

Nur: Wenn Wissen derart bedeutend ist, warum verliert es neuerdings so an Wert? Dahinter steckt weniger Absicht als schlicht die Banalität des Blöden, nämlich: Bequemlichkeit. Mit unseren ersten Mobiltelefonen begannen wir, Telefonnummern extern zu speichern, mit der Verbreitung des Internets, uns Fakten nicht mehr einzuprägen. Zwar spricht nichts dagegen, selten gebrauchte Informationen pragmatisch auszulagern. Wenn nur kein Aber wäre. 

Die Psychologie kennt dieses seit 1927 als Zeigarnik-Effekt, gemäss dem erledigte Handlungen nur halb so gut im Gedächtnis haften wie unerledigte. Wer also weiss, dass eine Information anderswo abrufbar ist, prägt sie sich weniger ein. «Damit verhindern wir, dass unser Gehirn sich die Mühe macht, hier noch etwas abspeichern zu wollen», sagt Gehirnforscher Manfred Spitzer. Wie viele Nullen hat eine Billion? Wie schreibt man nochmals Chrysanthemen? Wann wurde John F. Kennedy erschossen? Auch nach mehrfachem Googeln merkt man es sich nicht und wird die Information weiterhin extern abrufen müssen.

Sogar bereits vorhandenes Wissen entwickelt eine immer kürzere Halbwertszeit, laut der Hirnforschung selbstverschuldet: Wir haben uns angewöhnt, das graue Getriebe gar nicht erst anzuwerfen, wenn es um Informationen geht, die das Netz in Sekundenschnelle ausspuckt. Statt scharf nachzudenken, googeln wir. Gemäss Gehirnforscher Manfred Spitzer funktionieren Synapsen aber wie Muskeln: Um leistungsfähig zu sein, müssen sie trainiert werden. 

Die Alarmglocken schrillen erst Jahre später. Wenn man planlos in der Gegend herumkurvt – weil sich der zigfach gefahrene Weg ohne Navi als unauffindbar herausstellt. Und es kommt noch dicker. Nachdem wir unser Wissen delegiert haben, ist jetzt unser Denken an der Reihe. So stutzte ich neulich zwar, als die Fahrplan-App für eine Strecke von 20 Kilometern in die Agglomeration anderthalb Stunden Fahrtzeit angab, aber die App musste es ja wissen (ich hatte versehentlich die rollstuhlgängige Verbindung angewählt). Einer befreundeten Familie stellte der Hauslieferdienst 36 Liter Frischmilch, 48 Eier und 15 Kilo Naturjoghurt vor die Türe. Sie habe den Einkauf als teuer empfunden, sich aber nichts weiter gedacht, so die Freundin (die Lebensmittel konnten nur als Einheiten zu 6 Stück gekauft werden). Ob auf dem Gotthardpass oder bei den Grossbanken: Lastwagen bleiben in Serpentinenkurven stecken, weil sie mit einem PKW-Navi unterwegs sind, auf Konten fehlen Millionen, weil nur noch der Rechner rechnet. Selber denken? Es scheint, als hielten wir das im Kopf nicht aus.

Früher habe er eine Pointe nach der anderen abschiessen können, stellte Harald Schmidt am Ende seiner Fernsehkarriere fest. Heute müsse er das Publikum erst zwei Minuten lang auf einen entsprechenden Wissensstand bringen, damit er überhaupt eine Pointe setzen könne. Natürlich gibt es Schlimmeres, als Harald-Schmidt-Witze nicht zu verstehen. Aber was beim Witz nicht funktioniert, funktioniert auch beim Denken nicht. Es braucht ein bestehendes Gerüst an Informationen, um diese überhaupt vernetzen zu können. Und es braucht einen Denkprozess, damit das Vernetzen auch stattfindet. Sonst heisst es bei Anspielungen, historischen Bezügen und Intertextualität: Fehlanzeige. Und was Gespräche und Diskussionen angeht: Wie sollen diese ohne stichhaltige Begründungen aussehen? Indem wir rufen: «Moment, ich muss kurz ein Argument googeln?» Da hilft auch unsere vielbeschworene neue Fähigkeit nicht, rasend schnell Informationen zu finden. Wer jeden Fakt einzeln abruft, ist behäbig. Und plötzlich sieht die digitale Revolution ziemlich alt aus. 

Für den Philosophen René Descartes stand fest: «Ich denke, also bin ich.» Er, der jeden Begriff, jede Erscheinung hinterfragte, sah einzig sein eigenes Denken als unumstössliche Tatsache. Wir dagegen entsorgen unseres aus lauter Bequemlichkeit. Dreht man den Satz von Descartes um, kommt man zum erschreckenden Schluss: Wenn ich aufhöre zu denken, was bleibt noch von mir übrig? Die Frage kann wohl jeder nur für sich beantworten. Und jetzt bitte nicht googeln.

 

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