Das Zeitalter des Wissens ist vorbei», durchfuhr es mich. Ich stand da, in der Hand das Smartphone, im Kopf die Frage der Kinder nach den Planeten des Sonnensystems. Stand da und googelte, was ich doch eigentlich wusste. Lag es an diesem «eigentlich»? Daran, dass Kinder sich alles einprägen – auch Fehlinformationen? Oder lag es schlicht an der digitalen Omnipräsenz von Antworten, allzeit griffbereit, verfügbar und bequem? Immer öfter greifen wir zu Smartphone und Computer, wenn es um Fakten, Rechtschreibung und Routen geht. Warum? Verlassen wir uns lieber auf Google als auf unser Gehirn?
Die Banalität des Blöden, NZZaS, 6.12. von Anna Kardos
Schliesslich wurde die Generation der heute 40-Jährigen noch
in eine Welt ohne Internet hineingeboren. Als Kind kannte man die
Telefonnummern sämtlicher Freundinnen auswendig, genauso die Abfahrtszeiten von
Tram und Bus. Etwas später an der Kantonsschule verachtete man zwar das
Auswendiglernen um des Auswendiglernens willen (schliesslich war man jung und
wild), beugte sich diesem aber trotzdem (die Wildheit hatte angesichts des
Latein-Schwerpunkts offenbar Grenzen). Stellvertretend belächelten wir den
Mathelehrer, der bei «Wetten, dass . .?» das Saalpublikum nach Geschlecht
memorierte und als «Frau-Mann-Frau-Frau . . .» wieder aufsagte. Welch sinnlose
Verschwendung von Gehirnmasse!
Tieferen Eindruck hinterliess die Deutschlehrerin, die uns
einbläute: «Lernt Gedichte! Solltet ihr je in die Lage kommen, alles zu
verlieren, habt ihr wenigstens Gedichte im Kopf!» Das klang spannend. Wir
malten uns aus, wie wir in Dunkelhaft festgehalten wurden oder blind
darniederlagen. So gesehen, erschien Wissen durchaus als existenziell.
Schon für die Generation unserer Grosseltern war angesichts
von Krieg und Kommunismus Wissen eine Art Reichtum gewesen. Es galt: «Was man
im Kopf hat, kann einem niemand nehmen.» Adäquat inszeniert wurde Bildung sogar
zum Statussymbol. So setzte man sich in sozialistisch regierten Ländern statt
mit einer französischen Tasche in der Armbeuge mit einem französischen «Pardon»
auf den Lippen vom vermeintlichen Pöbel ab, und ein enzyklopädisches Wissen
verlieh seinem Besitzer den Adel des Geistes – der reale war abgeschafft.
Nur: Wenn Wissen derart bedeutend ist, warum verliert es
neuerdings so an Wert? Dahinter steckt weniger Absicht als schlicht die
Banalität des Blöden, nämlich: Bequemlichkeit. Mit unseren ersten
Mobiltelefonen begannen wir, Telefonnummern extern zu speichern, mit der
Verbreitung des Internets, uns Fakten nicht mehr einzuprägen. Zwar spricht
nichts dagegen, selten gebrauchte Informationen pragmatisch auszulagern. Wenn
nur kein Aber wäre.
Die Psychologie kennt dieses seit 1927 als Zeigarnik-Effekt,
gemäss dem erledigte Handlungen nur halb so gut im Gedächtnis haften wie
unerledigte. Wer also weiss, dass eine Information anderswo abrufbar ist, prägt
sie sich weniger ein. «Damit verhindern wir, dass unser Gehirn sich die Mühe
macht, hier noch etwas abspeichern zu wollen», sagt Gehirnforscher Manfred
Spitzer. Wie viele Nullen hat eine Billion? Wie schreibt man nochmals
Chrysanthemen? Wann wurde John F. Kennedy erschossen? Auch nach mehrfachem
Googeln merkt man es sich nicht und wird die Information weiterhin extern
abrufen müssen.
Sogar bereits vorhandenes Wissen entwickelt eine immer
kürzere Halbwertszeit, laut der Hirnforschung selbstverschuldet: Wir haben uns
angewöhnt, das graue Getriebe gar nicht erst anzuwerfen, wenn es um
Informationen geht, die das Netz in Sekundenschnelle ausspuckt. Statt scharf
nachzudenken, googeln wir. Gemäss Gehirnforscher Manfred Spitzer funktionieren
Synapsen aber wie Muskeln: Um leistungsfähig zu sein, müssen sie trainiert
werden.
Die Alarmglocken schrillen erst Jahre später. Wenn man
planlos in der Gegend herumkurvt – weil sich der zigfach gefahrene Weg ohne
Navi als unauffindbar herausstellt. Und es kommt noch dicker. Nachdem wir unser
Wissen delegiert haben, ist jetzt unser Denken an der Reihe. So stutzte ich
neulich zwar, als die Fahrplan-App für eine Strecke von 20 Kilometern in die
Agglomeration anderthalb Stunden Fahrtzeit angab, aber die App musste es ja
wissen (ich hatte versehentlich die rollstuhlgängige Verbindung angewählt).
Einer befreundeten Familie stellte der Hauslieferdienst 36 Liter Frischmilch,
48 Eier und 15 Kilo Naturjoghurt vor die Türe. Sie habe den Einkauf als teuer
empfunden, sich aber nichts weiter gedacht, so die Freundin (die Lebensmittel
konnten nur als Einheiten zu 6 Stück gekauft werden). Ob auf dem Gotthardpass
oder bei den Grossbanken: Lastwagen bleiben in Serpentinenkurven stecken, weil
sie mit einem PKW-Navi unterwegs sind, auf Konten fehlen Millionen, weil nur
noch der Rechner rechnet. Selber denken? Es scheint, als hielten wir das im
Kopf nicht aus.
Früher habe er eine Pointe nach der anderen abschiessen
können, stellte Harald Schmidt am Ende seiner Fernsehkarriere fest. Heute müsse
er das Publikum erst zwei Minuten lang auf einen entsprechenden Wissensstand bringen,
damit er überhaupt eine Pointe setzen könne. Natürlich gibt es Schlimmeres, als
Harald-Schmidt-Witze nicht zu verstehen. Aber was beim Witz nicht funktioniert,
funktioniert auch beim Denken nicht. Es braucht ein bestehendes Gerüst an
Informationen, um diese überhaupt vernetzen zu können. Und es braucht einen
Denkprozess, damit das Vernetzen auch stattfindet. Sonst heisst es bei
Anspielungen, historischen Bezügen und Intertextualität: Fehlanzeige. Und was
Gespräche und Diskussionen angeht: Wie sollen diese ohne stichhaltige
Begründungen aussehen? Indem wir rufen: «Moment, ich muss kurz ein Argument
googeln?» Da hilft auch unsere vielbeschworene neue Fähigkeit nicht, rasend
schnell Informationen zu finden. Wer jeden Fakt einzeln abruft, ist behäbig. Und
plötzlich sieht die digitale Revolution ziemlich alt aus.
Für den Philosophen René Descartes stand fest: «Ich denke,
also bin ich.» Er, der jeden Begriff, jede Erscheinung hinterfragte, sah einzig
sein eigenes Denken als unumstössliche Tatsache. Wir dagegen entsorgen unseres
aus lauter Bequemlichkeit. Dreht man den Satz von Descartes um, kommt man zum
erschreckenden Schluss: Wenn ich aufhöre zu denken, was bleibt noch von mir
übrig? Die Frage kann wohl jeder nur für sich beantworten. Und jetzt bitte nicht
googeln.
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