3. Oktober 2020

Ohne Aufnahmeprüfung dauert der Stress jahrelang

Während Wochen ist in dem durch die Covid-19-Krise bedingten Lockdown der Schulen darüber gestritten worden, ob ein Maturitätszeugnis ohne Prüfung überhaupt ein Maturitätszeugnis sei. Politiker, Hochschulrektoren, Wissenschafter befürchteten, dass die Aussagekraft eines solchen Zeugnisses eingeschränkt sei, beklagten den föderalen Flickenteppich bei dieser Frage und äusserten sich mehrheitlich ablehnend zur Möglichkeit, dass man ein Diplom ohne vorgängige Prüfung erhalte.

Wird an den Gymnasien alles besser ohne Prüfung? NZZ, 1.10. von Maria A. Cattaneo und Stefan C. Wolter

Interessanterweise und in völligem Kontrast zu diesen teilweise hitzig geführten Debatten steht der Umstand, dass die Mehrheit der in diesen Wochen neu ins Gymnasium eintretenden Schüler für diesen Zugang keine Prüfung ablegen mussten und dass dort, wo der Zugang überhaupt zur Debatte steht, in der Öffentlichkeit mehrheitlich jene Stimmen zu hören sind, die die noch existierenden Prüfungen lieber heute als morgen abschaffen möchten.

Kantone setzen Hürden unterschiedlich hoch

Der zurzeit bei der Frage der Maturitätsprüfung beklagte föderale Flickenteppich besteht seit langem und in viel grösserem Umfang bei den Selektionsmechanismen für die Gymnasien. Grob eingeteilt gibt es in der Schweiz drei verschiedene Verfahren: Eine Minderheit der Kantone verwendet neben Empfehlungen und Vornoten noch Ergebnisse aus einer externen Prüfung. Die Mehrheit der Kantone verzichtet hingegen auf solche externen Prüfungen und setzt nur auf die Information aus den schulischen Noten und den Empfehlungen der Lehrpersonen. Eine dritte Kategorie von Kantonen schliesslich nutzt zwar zum Teil ebenfalls Noten und Empfehlungen als Selektionskriterien, wendet diese aber so lasch an, dass man von keiner wirklichen Selektionshürde ausgehen muss.

Vergleicht man die Kantone mit Prüfungen als Selektionselement mit dieser letzten Kategorie von Kantonen, stechen zwei Dinge ins Auge, die man bei einer Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Prüfungen berücksichtigen muss.

Erstens bedeutet der praktisch selektionsfreie Übergang in die Gymnasien nicht automatisch, dass in diesen Kantonen all diese Jugendlichen auch ein Maturitätszeugnis erhalten. Das Fehlen der Selektion beim Eintritt in die Gymnasien wird zumindest teilweise durch eine rigorosere Selektion während des Gymnasiums kompensiert.

Wie hoch die Risiken eines einfachen Zugangs zum Gymnasium sind, zeigen exemplarisch Berechnungen für die Kantone Genf und Tessin. Jugendliche, die aufgrund ihrer schulischen Qualifikationen eigentlich nicht ans Gymnasium gehen sollten, es aber trotzdem tun, weisen noch gerade eine Chance von fünfzig Prozent auf, überhaupt das erste Jahr des Gymnasiums erfolgreich zu bestehen.

Zweitens schaffen es diese Kantone trotz der späteren Selektion dennoch nicht, alle der nicht studienbefähigten Gymnasiasten von der Maturität auszuschliessen, was dazu führt, dass Gymnasiasten aus diesen Kantonen später ein signifikant höheres Risiko aufweisen, ihr einmal in Angriff genommenes Universitätsstudium abbrechen zu müssen. Mit anderen Worten: Wer glaubt, nach einer Abschaffung der Prüfungen sei der Stress für die Jugendlichen und ihre Eltern weg, täuscht sich gewaltig. Der Stress dauert dann einfach über Jahre an.

Falls möglich, dann ans Gymnasium

Wenn für Jugendliche die Kehrseite der Medaille eines prüfungsfreien Zugangs ans Gymnasium ein höheres Risiko des Misserfolgs und Scheiterns im Gymnasium und im Studium ist, dann stellt sich die Frage, ob diese Risiken genügend abschreckend wirken, um Eltern davon abzuhalten, ihren Kindern bei schlechten oder mittelmässigen schulischen Leistungen von einem Besuch des Gymnasiums abzuraten.

Ohne Risiken, das zeigt dieses Befragungsexperiment zum ersten Mal, würden sich drei von fünf Eltern bei einer Wahl zwischen Gymnasium und Berufslehre für Ersteres entscheiden. Der Umstand also, dass das Berufsbildungsland Schweiz bei der gymnasialen Maturität eine Quote von etwas über zwanzig Prozent aufweist, ist weniger dem Umstand zu verdanken, dass die Eltern von der Lehre angetan sind, sondern mehr, dass die Zugänge zu den Gymnasien in den Kantonen mehr oder wenig strikt reguliert sind.

Dieser Interpretation entspricht auch die Beobachtung, dass beispielsweise im Kanton Genf mit einem sehr liberalen Zugang zum Gymnasium fast sechzig Prozent einer Kohorte es zuerst einmal im Gymnasium versuchen. Wenig überraschend ist der weitere Befund, dass die Präferenzen für das Gymnasium in der lateinischen Schweiz oder in Kantonen mit hohen Maturitätsquoten deutlich höher sind.

Da ein grosser Zulauf zu den Gymnasien wie erwähnt mit Risiken verbunden ist, wollten wir von den Befragten wissen, wie sie bei ihren Präferenzen reagieren würden, wenn man die Risiken offenlegt. Dafür bekamen zufällig ausgewählte Befragte die Information, dass ein Kind mit den Kompetenzen ihres «hypothetischen» Kindes mit einem Ausfallrisiko von zwanzig Prozent beim Gymnasium rechnen müsste, und für eine weitere Gruppe der Befragten wurde dieses Risiko gar auf fünfzig Prozent angehoben.

Viele Eltern würden eine Hochrisikostrategie wählen

Während Erwachsene aus der Deutschschweiz auf die Veränderung der Ausgangssituation im erwarteten Sinne reagieren, nämlich, dass bei einem sehr hohen Abbruchrisiko jetzt nur noch eine Minderheit von vierzig Prozent ihren Kindern das Gymnasium ans Herz legen würden, reagieren die Befragten aus der Westschweiz auf diese Information überhaupt nicht. Eine unverändert hohe Mehrheit der «hypothetischen» Eltern würde auch im Falle eines so hohen Misserfolgsrisikos am Gymnasium als präferiertem Weg festhalten.

Der Jahr für Jahr beobachtete «Run» auf die Gymnasien in gewissen Schweizer Kantonen mit den entsprechenden Folgen von Ausbildungsabbrüchen und Repetitionen kann also nicht damit erklärt werden, dass den Eltern die Risiken dieser Entscheidungen nicht bewusst wären. Im Gegenteil, die Präferenzen für die Gymnasien und die Ablehnung der Berufsbildung sind derart stark ausgeprägt, dass sie dieses Risiko billigend in Kauf nehmen.

Bei den nun teilweise ausgefallenen Maturitätsprüfungen ist völlig unklar, ob diese für die Betroffenen je Konsequenzen haben werden. Bei einer kompletten Abschaffung der Prüfungen für die Gymnasien kann man hingegen zwei Folgen relativ gut abschätzen, wie unser Befragungsexperiment zeigt: Erstens käme es zu einem noch grösseren Ansturm auf die Gymnasien, da das mit der Ausweitung des Zugangs einhergehende höhere Risiko eines Abbruches zu wenig Eltern von einem Versuch abhalten würde, und zweitens wäre der Chancengerechtigkeit ein Bärendienst erwiesen, weil vor allem Kinder von Akademikern sich diesen leichteren Zugang zunutze machen würden.

* Maria A. Cattaneo ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF). Stefan C. Wolter ist Direktor der SKBF und Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern.

 

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