Während Wochen ist in dem durch die Covid-19-Krise bedingten Lockdown der Schulen darüber gestritten worden, ob ein Maturitätszeugnis ohne Prüfung überhaupt ein Maturitätszeugnis sei. Politiker, Hochschulrektoren, Wissenschafter befürchteten, dass die Aussagekraft eines solchen Zeugnisses eingeschränkt sei, beklagten den föderalen Flickenteppich bei dieser Frage und äusserten sich mehrheitlich ablehnend zur Möglichkeit, dass man ein Diplom ohne vorgängige Prüfung erhalte.
Wird an den Gymnasien alles besser ohne Prüfung? NZZ, 1.10. von Maria A. Cattaneo und Stefan C. Wolter
Interessanterweise und in völligem Kontrast zu diesen teilweise hitzig
geführten Debatten steht der Umstand, dass die Mehrheit der in diesen Wochen
neu ins Gymnasium eintretenden Schüler für diesen Zugang keine Prüfung ablegen
mussten und dass dort, wo der Zugang überhaupt zur Debatte steht, in der
Öffentlichkeit mehrheitlich jene Stimmen zu hören sind, die die noch
existierenden Prüfungen lieber heute als morgen abschaffen möchten.
Kantone setzen Hürden unterschiedlich hoch
Der zurzeit bei der Frage der Maturitätsprüfung beklagte föderale Flickenteppich
besteht seit langem und in viel grösserem Umfang bei den Selektionsmechanismen
für die Gymnasien. Grob eingeteilt gibt es in der Schweiz drei verschiedene
Verfahren: Eine Minderheit der Kantone verwendet neben Empfehlungen und
Vornoten noch Ergebnisse aus einer externen Prüfung. Die Mehrheit der Kantone
verzichtet hingegen auf solche externen Prüfungen und setzt nur auf die
Information aus den schulischen Noten und den Empfehlungen der Lehrpersonen.
Eine dritte Kategorie von Kantonen schliesslich nutzt zwar zum Teil ebenfalls
Noten und Empfehlungen als Selektionskriterien, wendet diese aber so lasch an,
dass man von keiner wirklichen Selektionshürde ausgehen muss.
Vergleicht man die Kantone mit Prüfungen als Selektionselement mit
dieser letzten Kategorie von Kantonen, stechen zwei Dinge ins Auge, die man bei
einer Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Prüfungen berücksichtigen muss.
Erstens bedeutet der praktisch selektionsfreie Übergang in die Gymnasien
nicht automatisch, dass in diesen Kantonen all diese Jugendlichen auch ein
Maturitätszeugnis erhalten. Das Fehlen der Selektion beim Eintritt in die
Gymnasien wird zumindest teilweise durch eine rigorosere Selektion während des
Gymnasiums kompensiert.
Wie hoch die Risiken eines einfachen Zugangs zum Gymnasium sind, zeigen
exemplarisch Berechnungen für die Kantone Genf und Tessin. Jugendliche, die
aufgrund ihrer schulischen Qualifikationen eigentlich nicht ans Gymnasium gehen
sollten, es aber trotzdem tun, weisen noch gerade eine Chance von fünfzig
Prozent auf, überhaupt das erste Jahr des Gymnasiums erfolgreich zu bestehen.
Zweitens schaffen es diese Kantone trotz der späteren Selektion dennoch
nicht, alle der nicht studienbefähigten Gymnasiasten von der Maturität
auszuschliessen, was dazu führt, dass Gymnasiasten aus diesen Kantonen später
ein signifikant höheres Risiko aufweisen, ihr einmal in Angriff genommenes
Universitätsstudium abbrechen zu müssen. Mit anderen Worten: Wer glaubt, nach
einer Abschaffung der Prüfungen sei der Stress für die Jugendlichen und ihre
Eltern weg, täuscht sich gewaltig. Der Stress dauert dann einfach über Jahre
an.
Falls möglich, dann ans Gymnasium
Wenn für Jugendliche die Kehrseite der Medaille eines prüfungsfreien
Zugangs ans Gymnasium ein höheres Risiko des Misserfolgs und Scheiterns im
Gymnasium und im Studium ist, dann stellt sich die Frage, ob diese Risiken
genügend abschreckend wirken, um Eltern davon abzuhalten, ihren Kindern bei
schlechten oder mittelmässigen schulischen Leistungen von einem Besuch des
Gymnasiums abzuraten.
Ohne Risiken, das zeigt dieses Befragungsexperiment zum ersten Mal,
würden sich drei von fünf Eltern bei einer Wahl zwischen Gymnasium und
Berufslehre für Ersteres entscheiden. Der Umstand also, dass das
Berufsbildungsland Schweiz bei der gymnasialen Maturität eine Quote von etwas
über zwanzig Prozent aufweist, ist weniger dem Umstand zu verdanken, dass die
Eltern von der Lehre angetan sind, sondern mehr, dass die Zugänge zu den
Gymnasien in den Kantonen mehr oder wenig strikt reguliert sind.
Dieser Interpretation entspricht auch die Beobachtung, dass
beispielsweise im Kanton Genf mit einem sehr liberalen Zugang zum Gymnasium
fast sechzig Prozent einer Kohorte es zuerst einmal im Gymnasium versuchen.
Wenig überraschend ist der weitere Befund, dass die Präferenzen für das Gymnasium
in der lateinischen Schweiz oder in Kantonen mit hohen Maturitätsquoten
deutlich höher sind.
Da ein grosser Zulauf zu den Gymnasien wie erwähnt mit Risiken verbunden
ist, wollten wir von den Befragten wissen, wie sie bei ihren Präferenzen
reagieren würden, wenn man die Risiken offenlegt. Dafür bekamen zufällig
ausgewählte Befragte die Information, dass ein Kind mit den Kompetenzen ihres
«hypothetischen» Kindes mit einem Ausfallrisiko von zwanzig Prozent beim
Gymnasium rechnen müsste, und für eine weitere Gruppe der Befragten wurde
dieses Risiko gar auf fünfzig Prozent angehoben.
Viele Eltern würden eine Hochrisikostrategie wählen
Während Erwachsene aus der Deutschschweiz auf die Veränderung der
Ausgangssituation im erwarteten Sinne reagieren, nämlich, dass bei einem sehr
hohen Abbruchrisiko jetzt nur noch eine Minderheit von vierzig Prozent ihren
Kindern das Gymnasium ans Herz legen würden, reagieren die Befragten aus der
Westschweiz auf diese Information überhaupt nicht. Eine unverändert hohe
Mehrheit der «hypothetischen» Eltern würde auch im Falle eines so hohen
Misserfolgsrisikos am Gymnasium als präferiertem Weg festhalten.
Der Jahr für Jahr beobachtete «Run» auf die Gymnasien in gewissen
Schweizer Kantonen mit den entsprechenden Folgen von Ausbildungsabbrüchen und
Repetitionen kann also nicht damit erklärt werden, dass den Eltern die Risiken
dieser Entscheidungen nicht bewusst wären. Im Gegenteil, die Präferenzen für
die Gymnasien und die Ablehnung der Berufsbildung sind derart stark ausgeprägt,
dass sie dieses Risiko billigend in Kauf nehmen.
Bei den nun teilweise ausgefallenen Maturitätsprüfungen ist völlig
unklar, ob diese für die Betroffenen je Konsequenzen haben werden. Bei einer
kompletten Abschaffung der Prüfungen für die Gymnasien kann man hingegen zwei
Folgen relativ gut abschätzen, wie unser Befragungsexperiment zeigt: Erstens
käme es zu einem noch grösseren Ansturm auf die Gymnasien, da das mit der
Ausweitung des Zugangs einhergehende höhere Risiko eines Abbruches zu wenig
Eltern von einem Versuch abhalten würde, und zweitens wäre der
Chancengerechtigkeit ein Bärendienst erwiesen, weil vor allem Kinder von
Akademikern sich diesen leichteren Zugang zunutze machen würden.
* Maria A. Cattaneo
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Schweizerischen Koordinationsstelle für
Bildungsforschung (SKBF). Stefan C. Wolter ist Direktor der SKBF und
Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern.
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