Seit und 40 Jahren beschäftige ich mich als Journalist mit Schule und Bildung. Politisch hat dieses Gebiet in dieser Zeit an Bedeutung gewonnen, häufig wird mit Schlagworten operiert. Doch was sind die grossen Linien? Nachfolgend fünf Thesen abseits der Tagespolitik.
These 1:Die Digitalisierung ist ebenso eine Chance wie eine Gefahr.
Die Sache ist zweischneidig. Einerseits: Die Digitalisierung, die durch Corona zusätzlichen Schub erhalten hat, sorgt für Demokratisierung der Bildung, für niederschwelligen Zugang zu Wissen, für Vermehrung der Wissensquellen; wir lernen nicht mehr bloss in der Schule oder dem Erwachsenenbildungskurs, sondern auch im Internet und in den sozialen Medien. Anderseits droht da auch eine Gefahr: Es ist die potenzielle Vertiefung des Bildungsgrabens. Das Knacken der digitalen Welt ist nicht für alle gleich einfach und selbsterklärend. Das gilt nicht nur für uns Alte, auch schwächer begabte junge Menschen stossen bisweilen auf unüberwindliche Hürden. Der Graben zwischen ihnen und den normal Begabten könnte weiter wachsen, die Schwächeren könnten noch mehr abgehängt werden.
Fünf Thesen zum Bildungsland Schweiz, BZ Basel, 23.10. von Hans Fahrländer
These 2: Der Fokus auf Pisa führt zu falschen Prioritäten.
Pisa – die internationale Schüler-Bewertung unter der Ägide der OECD – wird seit dem Jahr 2000 in dreijährigem Turnus durchgeführt, mit dem Ziel, alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten von Fünfzehnjährigen zu messen und zu vergleichen. Pisa ist eine Folge der Globalisierung; zuvor gab es solch internationales Kräftemessen nicht. In der Schweiz und anderswo gab es dadurch den sogenannten Pisa-Schock; er betraf vor allem den höchst durchschnittlichen Bildungsstand im Lesen. Pisa führte dazu, dass sich Politik und Wirtschaft viel mehr um die Schule kümmern als früher. Das ist nicht a priori schlecht. Aber wenn das Pisa-Ergebnis als Beleg für die Potenz des eigenen politischen Systems missbraucht wird, dann wird es problematisch. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen: dass die Bildung und Formung der Jugendlichen nicht mehr primär diesen Jugendlichen dient, sondern den Bedürfnissen von Politik und Wirtschaft. Eine zweite Gefahr stellt die Illusion dar, Bildung könne exakt vermessen werden. Zur Bildung gehören auch Kompetenzen, soziale, emotionale, die mit keiner Prüfung der Welt gemessen werden können. Soll sich die Schweiz von Pisa verabschieden? Nein. Aber sie soll die Ergebnisse nicht überhöhen und nicht zum Anlass für hektische Betriebsamkeit nehmen.
These 3: Bologna hat die Stärken der Universitäten unterminiert.
1999 wurde in Bologna eine Deklaration für eine umfassende internationale Hochschulreform verabschiedet. Ihr Ziel war die Schaffung eines europäischen Hochschulraumes, die Vereinheitlichung von Studiengängen und -abschlüssen, mit dem Ziel, die internationale Mobilität der Studierenden zu fördern. Anstelle eines einstufigen Studiums trat der zweistufige Bachelor- und Masterabschluss. Die Kritik an Bologna will auch nach 20 Jahren nicht verstummen. Zu Recht. Den Götzen Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit werden nationale Stärken und Eigenheiten geopfert, mit dem starren Studienkonzept wird dem freien Studieren, dem Mitnehmen von Perlen aus anderen Studiengängen, der Garaus gemacht. Mit Bologna wird eine verschulte Ausbildung ohne akademische Tiefe geschaffen, die nicht angemessen für einen Beruf oder die Wissenschaft qualifizieren kann. Beschäftigungsfähigkeit am Arbeitsmarkt steht heute über allem. Soll sich die Schweiz von Bologna verabschieden? Das geht gar nicht. So wie wir nicht zur Sommerzeit-Insel werden können, können wir nicht zur Bologna-Insel werden, zu gross sind die internationalen Vernetzungen und Verzahnungen. Aber die Schweiz sollte versuchen, die unangenehmen Folgen vom Bologna zu mildern und zum Beispiel dem Studieren abseits der «Autobahn», dem Fischen nach schönen Perlen abseits der Nützlichkeit und Verwertbarkeit wieder mehr Raum zu gewähren.
These 4: Integration ist gut, braucht aber Ressourcen.
Die Integration, also die Schulung möglichst vieler Kinder und Jugendlicherin einer Normalklasse, ohne gleichzeitige Führung von Kleinklassen, stammt ursprünglich aus dem Behindertengleichstellungsgesetz. Die Idee: Wer separiert wird, wird stigmatisiert. Überdies profitierten die Schwächeren von den Stärkeren, wenn sie gemeinsam geschult werden. Es ist eine Herkulesaufgabe für eine Klassenlehrperson, alle Gruppen miteinander zu fördern. Deshalb wird die Kritik an der integrativen Schulung immer lauter. Integration ist ein aufwendiges Konzept. Sie funktioniert nur reibungslos, wenn genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, zeitliche, räumliche, personelle, finanzielle. Und die stehen in den meisten Kantonen nicht ausreichend zur Verfügung. Heilpädagoginnen fehlen zum Beispiel an allen Ecken und Enden. Soll sich die Schweiz von der integrativen Schulung verabschieden? Nein. Aber sie soll sie nicht zur allein seligmachenden Doktrin erheben.
These 5: Bei der Chancengleichheit ist die Schweiz noch viel zu wenig weit.
Die Möglichkeiten, zu höherer Bildung zu gelangen, sind für junge Menschen grösser geworden. Früher gabelten sich die Wege nach der Volksschule, oft schon nach der Primarschule. Heute ist auch einem leistungswilligen Realschüler der Weg an eine Hochschule nicht mehr versperrt. Die Zahl der akademischen, der tertiären Abschlüsse ist stark gewachsen, vor allem im Berufsbildungsbereich. Neben Universitäten und Eidgenössischen Technischen Hochschulen traten Fachhochschulen, Pädagogische Hochschulen, eidgenössische Berufsprüfungen, höhere Fachprüfungen sowie Abschlüsse an höheren Fachschulen. Doch im Jahr 2018 hat der Schweizerische Wissenschaftsrat eine Studie veröffentlicht, in welcher er sich der «sozialen Selektivität» des Bildungssystems widmete. Er kam zum Schluss, dass in der Schweiz punkto Aufstiegschancen noch immer «unhaltbare Zustände herrschten» – zum Schaden von Jugendlichen aus sozial benachteiligten Schichten oder mit einem Migrationshintergrund, zum Schaden aber auch für die Volkswirtschaft. Die Schule Schweiz ist offenbar immer noch gut für die Guten und schlecht für die Schlechten. Das Thema gehört deshalb endlich an die Spitze der bildungspolitischen Desiderata.
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