In den letzten acht Wochen hat Margrit Stamm genau beobachtet, was sich zwischen der Schule und den Familien abgespielt hat. Und immer wieder hat die Professorin für pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Fribourg dies auch kritisch in ihrem Blogoder über Twitter kommentiert. Anfangs April schrieb sie zum Beispiel:
Eltern sollen jetzt nicht Ersatzlehrer spielen, sondern Unterstützer sein. Das Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern ist viel emotionaler und abhängiger als das zu ihren Lehrern.
Acht Wochen später zieht Margrit Stamm eine überraschend
positive Bilanz. Die Familien und Schulen hätten diese Zwangspause viel besser
gemeistert als gedacht. Die Corona-Zeit habe allen Beteiligten die Möglichkeit
gegeben neue Facetten aneinander zu entdecken, die im Alltag meist untergehen
würden.
Endlich mal
keine Termine
Eltern hätten zum ersten Mal erleben können, wie ihre
Kinder an Aufgaben herangingen oder wie lange sie für gewissen Übungen
benötigen. In normalen Zeiten hätten die Kinder meist so viele Termine, da
bleibe kein Platz für solche Beobachtungen. Heute sei jeder Moment des
Kinderlebens durchgeplant, so Margrit Stamm: «Man spricht in diesem
Zusammenhang ja auch von Terminkindheit.»
Aber
auch die Lehrpersonen hätten plötzlich Zeit gehabt, dem Kind auf eine neue Art
zu begegnen. So hatte zum Beispiel ein scheues Kind in einem Videocall die
Möglichkeit gehabt, sich ganz alleine mit der Lehrperson auszutauschen oder
viele Kinder hätten ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer Zeichnungen oder Briefe
geschickt. «Durch die neuen Wege der Kommunikation konnten neue Aspekte des
Kindes entdeckt werden», erklärt Margrit Stamm.
Ein neuer
Blick auf das Kind
Sie ist überzeugt, dass so teilweise auch ein neuer Blick
auf ein Kind möglich wurde. Eventuell würden sich sogar Neueinschätzungen eines
Schülers, einer Schülerin ergeben, hofft die Erziehungsexpertin: «In der
Forschung sagt man, dass sich eine Lehrperson im Schnitt nach zwei Wochen eine
Meinung über eine Schülerin oder einen Schüler gebildet hat.» Dank Corona
konnte diese Meinung nun vielleicht revidiert werden.
Margrit Stamm ist deshalb überzeugt, dass auf beiden
Seiten die Wertschätzung gestiegen ist. Eltern hätten gesehen, was Lehrerinnen
und Lehrer leisten. Und diese wiederum hätten einen Einblick ins Milieu
erhalten in welchem ein Kind aufwächst und vielleicht zum ersten Mal erlebt,
aus welch engen Verhältnissen ein Kind kommt.
Kinder nehmen
Spannung der Eltern wahr
Aber auch der Blick der Kinder gegenüber den Eltern habe
sich verändert. Kinder seien wie Seismografen, die genau spüren würden unter
welcher Spannung die Eltern stünden.
So
hätten sie erlebt, wie die Eltern arbeiten. Wie sie einen Tag lang hinter der
Zimmertür verschwinden und telefonieren. Etwas, das sonst immer ausserhalb der
eigenen vier Wänden geschieht.
Der
Wiedereinstieg braucht Zeit
Corona bot die Chance für unzählige neue Erfahrungen
zwischen Eltern, Kinder und Lehrpersonen. Margrit Stamm hofft nun, dass dies
auch in der Schule thematisiert wird. Damit der Wiedereinstieg gelingt, brauche
es Zeit, wieder im durchgetakteten Schulalltag anzukommen.
Die Erziehungswissenschafterin warnt davor, nun einfach
«loszupowern», so als hätte man etwas aufzuholen. Die Kinder hätten zwar
vielleicht Lernstoff verpasst, aber dafür an Lebenskompetenz dazugewonnen.
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