25. Mai 2020

Jäncke: Schulen setzen auf die falsche Lernmethode

Die Universität Zürich ist zugesperrt und Lutz Jäncke im Lockdown. Seine Lehrveranstaltungen hält er im Fernunterricht ab. Der 63-Jährige ist Professor für Neuropsychologie und hat das menschliche Lernverhalten erforscht. Die Eltern könnten das Hirn ihrer Kinder steuern, sagt Jäncke. Dabei gebe es aber einiges zu beachten. Wir erreichen ihn zwischen Onlinevorlesungen am Telefon.

«Liebe Eltern, entspannt euch!»Sonntagszeitung,  24.5.2020, Interview mit Lutz Jäncke, von Nadja Pastega 

Herr Jäncke, Psychologen und Hirnforscher befassen sich seit Jahren mit der Frage, was denn Glück sei. Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie glücklich sind Sie gerade?
Mein Zufriedenheitspegel liegt bei einer 6 oder 7. Das hat aber nichts mit Glück zu tun. Glücksgefühle und Zufriedenheit sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Inwiefern?
Glück ist etwas, wofür wir nichts können. Wenn Sie den richtigen Lebenspartner gefunden haben, können Sie in die Hände klatschen: Glück gehabt! Oder Sie können sehr glücklich sein, wenn Sie einen Sechser im Lotto haben. Dann laufen bestimmte physiologische Prozesse ab, Dopamin wird im Lustzentrum ausgeschüttet. Wir verspüren ein starkes Wohlbefinden.

Wie bei Sex, Suff und Drogen?
Ja, aber das hält nicht lange an. Mein momentaner Zustand ist also: Ich bin zufrieden. Aber um dieses euphorische Glücksgefühl zu empfinden, müsste ich einen Jackpot knacken.

Wo erreichen wir Sie denn gerade?
Im Homeoffice in meiner Wohnung in Zürich.

Zu Hause sitzen derzeit viele Leute. Und das seit Wochen. Was passiert mit uns in dieser Isolation?
Das hängt unter anderem davon ab, wie unsere Sozialkontakte nach draussen sind. Inzwischen liegen erste Daten zur Schweizer Bevölkerung vor. Sie zeigen, dass dieses Gefangensein in engen Räumen für viele Menschen unangenehm ist. Es sorgt für mehr Stressempfinden, es gibt auch mehr Anzeichen von Depressionen. Ein zweiter Punkt: Man darf nicht vergessen, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der überhaupt nicht klar ist, was das Virus gesundheitlich mit uns macht. Da akkumulieren sich die Befunde erst.

Die sich zum Teil widersprechen. Zum Beispiel bei der Frage, ob Kinder nun ansteckend sind oder nicht.
Für die Wissenschaftler sind die vermeintlichen Widersprüche oft gar keine Widersprüche, sondern Detailfragen, die diskutiert werden. Aber für Laien entsteht der Eindruck: Die wissen gar nicht, wovon sie reden. Das ist eine ganz unangenehme Situation. Denn unser Gehirn ist so konstruiert, dass es versucht, in jeder Sekunde unseres Lebens eine konstante Interpretation der Welt zu erstellen. Das ist jetzt nicht möglich. Und das stresst.

Wird das Virus unser Verhalten nachhaltig verändern?
Ich rechne nicht damit, dass die Menschen dramatische persönliche Veränderungen einleiten werden. Wir sind viel zu phlegmatisch, viel zu anpassungsfähig, von Gewohnheiten gesteuert. 

Mit anderen Worten: Wir sind zu faul?
Unser Gehirn neigt dazu, all das, was sich einmal bewährt hat, immerfort zu wiederholen. Das ist auch sinnvoll. Der grösste Teil unseres Lebens ist eine alltägliche Wiederholung dessen, was wir am Tag davor gemacht haben. Da ist das Gehirn befreit von komplexen Entscheidungsprozessen und wendet automatisch Schablonen an. Ich bin mir ziemlich sicher, dass nach der Pandemie Business as usual eintreten wird. Veränderungen sehe ich eher im Arbeitsleben. Videokonferenzen werden zum Umdenken führen. Man wird viele unnötige Reisen nicht mehr unternehmen. 

Warum sind diese Online-Meetings eigentlich so ermüdend? Es gibt dafür bereits einen Begriff: «Zoom Fatigue», benannt nach der Software, die vielerorts für Videokonferenzen eingesetzt wird.
Der Mensch ist ein Sozialtier. Der grösste Teil unseres gesamten Verhaltensinventars, das wir implementiert haben, ist darauf ausgerichtet, mit anderen Menschen zu kommunizieren und zu interagieren. Wir brauchen den direkten Kontakt wie die Butter auf dem Brot. Das fehlt bei der Videokonferenz. Das sind ja keine Menschen, die wir da sehen, sondern Avatare. 

Online-Kommunikation haben auch die Schülerinnen und Schüler wochenlang durchexerziert. Was sind die Folgen des Homeschoolings?
Kinder brauchen Struktur und Stimulation. Je jünger sie sind, desto mehr muss man ihnen davon bieten. Ich hoffe, dass die Eltern ihren Kindern diese Struktur gegeben haben. Bis hin zu: um acht Uhr beginnen und um 12 Uhr aufhören, mit Pausen und Pausenbroten.

Viele Eltern sassen aber selber im Homeoffice. Da fehlt doch schlicht die Zeit, um nebenher noch Pausenbrote zu schmieren.
Ich bin im Vorstand eines Zürcher Gymnasiums. Wir haben uns das genau angeschaut. Es hat ziemlich gut geklappt. Ich weiss nicht, ob das überall so gewesen ist. Es ist einfach eine Tatsache, dass man Kindern eine Struktur geben muss. Das hat einen neurophysiologischen Hintergrund: Der Frontalcortex ist bei Kindern und Jugendlichen noch nicht voll ausgereift.

Frontalcortex heisst?
Das ist jener Bereich des Gehirns, der hilft, uns zu disziplinieren und gegen Ablenkung zu wehren. Er ist erst mit dem 18. Lebensjahr ausgereift. Darum ist die Gefahr bei Kindern gross, dass sie sich ablenken lassen. 

Und Teenager furchtbar ungern lernen?
Das ist einer der wichtigen Gründe. Man kennt das von vielen Pubertierenden. In der Schule sind sie faul, aber als Erwachsene lernen sie plötzlich ganz anders, und an der Universität sind sie die besten Studenten.

Wenn Struktur und Anleitung so wichtig sind: Was bedeutet das «selbstorganisierte Lernen», das an den Schulen Einzug hält?
Das hört sich toll an. Aber es funktioniert oft nicht so, wie man sich das theoretisch vorstellt. Kinder und Teenager sind nicht so effizient in der Lage, sich selbst klare Ziele auszusuchen und sich mit einem Stoff auseinanderzusetzen, wenn sie nicht verstehen, warum sie diesen Stoff lernen sollen. Was da häufig in den Schulen passiert, setzt sich über die Erkenntnisse der Hirnforschung und Lernpsychologie hinweg. 

Gilt das auch für den Lehrplan 21, der 363 Kom­­pe­ten­zen beschreibt, die die Schüler beherrschen sollen?
Dieses Konzept wurde offenbar von Theoretikern entworfen. So wie das formuliert ist, lässt es sich in der Praxis kaum umsetzen. Ich habe noch keinen Lehrer getroffen, der davon hellauf begeistert ist. Oft fühlen sie sich überfordert, was jeder versteht, der mal in diesen Lehrplan reingeschaut hat. 

Müsste man also nachbessern?
Statt über selbstorganisiertes Lernen nachzudenken, sollten wir als Eltern und Gesellschaft entscheiden, welche Inhalte die Kinder lernen sollen. Das tun wir viel zu selten. Das hat zur Folge, dass beispielsweise an den Primarschulen unterschiedliche Dinge auf unterschiedlichen Niveaus gelehrt werden. Wenn die Kinder dann aufs Gymnasium wollen, müssen sie irgendwelche Weiterbildungskurse bei Privatanbietern aufsuchen, weil sie das, was sie brauchen, in der Schule nicht gelernt haben. Das ist doch ein völlig falsches Lehrmodell. 

Sie haben das Lernverhalten erforscht. Wie können die Eltern das Potenzial ihrer Kinder am besten fördern?
Kinder brauchen eine anregende, fordernde und fördernde Umwelt. In Deutschland gibt es eine relativ grosse prekäre Schicht. Aus diesem Prekariat kommen ganz selten Kinder hervor, die Abitur oder überhaupt einen Schulabschluss haben. Das ist nicht nur durch die Gene bestimmt, sondern vor allem durch die fehlende Anregung in diesen Gesellschaftsschichten. Kinder müssen stimuliert werden, sie müssen bombardiert werden mit kulturellen Reizen. Man soll sie nicht überfordern, aber man muss doch etwas anbieten. 

Wie stark hängt es von den Genen ab, wie intelligent wir sind?
Die klassischen Intelligenzforscher haben das linear erklärt: 70 Prozent der Intelligenz ist durch die Gene determiniert, 30 Prozent durch die Umwelt. Das sehe ich als Neurowissenschaftler anders. Diese lineare Interaktion gibt es nicht. Das Zusammenspiel zwischen Genen und Umwelt ist sehr komplex und vor allen Dingen nicht linear. Wir können zum Beispiel die Veranlagng haben, sehr intelligent zu sein, aber sie wird nicht gefordert, weil das in unserem Lebensumfeld überhaupt keine Rolle spielt. Dann kann sich die Intelligenz nicht entfalten. 

Das heisst umgekehrt: Die Eltern können etwas tun für die Intelligenz ihrer Kinder?
Natürlich, man kann sie fördern. Vor allem aber kann man die Intelligenz seines Kindes «nicht fördern», indem man keine Stimulation anbietet.

Ehrgeizige Eltern bringen ihren Kindern schon vor der Einschulung das Abc und Rechenaufgaben bei. Was bringt es, wenn man schon Knirpse drillt? Hat das wirklich Einfluss auf den Erfolg im Leben?
Die amerikanische Juraprofessorin Amy Chua hat ein Buch über diese «Tiger Mum»-Erziehung geschrieben. Sie hat ihre beiden Töchter mit dem klassischen chinesischen Erziehungsstil grossgezogen. Die Töchter wurden gedrillt. Dramatisch.

Mutter Chua drohte als Lernanreiz mit dem Verbrennen der Kuscheltiere. Oder damit, das Puppenhaus der Heilsarmee zu spenden und die Geburtstagsparty für mehrere Jahre ausfallen zu lassen. Was wurde aus diesen Kindern?
Die eine Tochter ist schwer depressiv und will sich immer umbringen. Sie hat mit der Mutter gebrochen. Die zweite Tochter ist «perfekt»: Hochintelligent, eine super erfolgreiche Musikerin und ebenfalls Professorin. Wenn Kinder eine gute Veranlagung haben und man sie von der Vorschul- bis in die Schulzeit fördert, kann man eine ganze Menge erreichen – aber eben auch massive psychische Probleme auslösen. 

Sie haben Weltklasse-Musiker untersucht. Dort läuft ohne Drill von Kindesbeinen an gar nichts.
Ich kenne keinen Profimusiker, der mit der Ausbildung und dem Training nicht früh begonnen hat. Viele haben darunter gelitten. Stars wie Lang Lang sind Millionäre und die besten Musiker der Welt geworden. Aber sie verfluchen ihre Eltern zum Teil bis heute. 

Was bedeutet das, wenn man es auf den normalen Alltag herunterbricht?
Die Methode der Tiger-Mütter halte ich nicht für zielführend. Ich würde meine Kinder nicht mit vier Jahren in den Chinesischunterricht schicken, dann in den Klavierunterricht karren, und anschliessend gehen sie ins Tennistraining. Wir müssen ein normales Mass finden, um die Kinder zu fördern.

Das heisst?
Kinder brauchen Freiraum, um ihre eigenen Interessen zu entdecken, dann stecken sie dort auch ihre Kräfte rein. Man muss den Kindern aber auch Struktur und Stimulation bieten. Das Gehirn hasst nichts mehr als Langeweile. Wenn es sich langweilt, sucht sich unser Gehirn Sachen, mit denen man sich einfach beschäftigen kann. Dann diffundieren die Kinder vor die Computer, gamen nur noch oder machen Blödsinn. 

Was empfehlen Sie Eltern ausserdem?
Den Müttern und Vätern, die Kinder im pubertären Alter haben, würde ich zunächst einmal sagen: Liebe Eltern, entspannt euch! Die Kinder werden euch später ähnlicher sein, als es euch lieb ist. Kinder und Jugendliche durchlaufen eine besondere Reifungsphase, darum sind sie so, wie sie sind. 

Welche Rolle spielt Musik für die Entwicklung eines Kindes?
Musizieren ist ein interessantes Mittel. Wenn man Flöte spielt, löst man zwar nicht besser Differenzialgleichungen. Aber im Musikunterricht lernt man etwas zu verbessern, was wir exekutive Fähigkeiten nennen: Disziplin, Selbstorganisation und Motivation. 

Es dürfte bei einem kleinen Ronaldo-Fan wenig bringen, wenn man ihm sagt: Versuch es doch mal mit Geigespielen.
Sport geht auch. Aber nur dann, wenn dabei auch die Selbstdisziplin gefördert und gefordert wird. 

Die ersten drei Lebensjahre gelten als «Schicksalsjahre», in denen vieles festgelegt wird, was sich später im Leben nicht mehr ändern lässt. Wie prägend sind sie wirklich?
Wichtig ist vor allem das Gefühl der Geborgenheit. Bis zum sechsten, siebten Lebensjahr ist die Bindung an wichtige Personen essenziell. Das entscheidet darüber, ob ein Kind Selbstvertrauen ausbilden kann. Das sieht man bei Schimpansen-Babys sehr schön. Wenn sie keine Bindung aufbauen können, weil die Eltern krank oder verhaltensgestört sind, hängen sie später immer bei den Eltern herum. Selbst wenn sie schlecht behandelt werden. Während jene, die gut eingebunden sind, in grossen Radien die Welt erkunden. Wenn Gefahr kommt, rennen sie schnurstracks zur Mutter, die Sicherheit spendet. Bindungssichere Kinder trauen sich mehr zu. Das ist bei uns Menschen auch so. 

In jungen Jahren fällt das Lernen einfacher als später im Leben. Haben Sie uns einen Tipp, wie wir auch im Alter unseren Denkmuskel fit halten können?
Ich bin kein Fan von Brainjoggings, Kreuzworträtseln und Sudoku. Es bringt mehr, wenn man sich mit sinnvollen Sachen auseinandersetzt. Am besten befasst man sich mit neuen, relevanten Dingen, mit Kunst und Kultur zum Beispiel, man kann auch ein Instrument lernen oder eine neue Sprache, wenn man eine Reise plant. Das sind die besten Gedächtnistrainings fürs Alter. Und vor allem: Lesen Sie Geschichten! Unser Gehirn verfügt über ein Geschichten-Gedächtnis. Romane lesen ist perfekt!

Was lesen Sie selber gerade?
Ich habe soeben die Cromwell-Romane durchgearbeitet, davor die Montalbano-Romane von Andrea Camilleri. Krimis zu lesen, entspannt mich nach der Arbeit.

Bis in welchem Alter sind wir lernfähig?
Bis ungefähr zehn Minuten bevor wir das Zeitliche segnen. Also: ein Leben lang.

Lutz Jäncke (63) ist in Wuppertal geboren. Er hat Psychologie, Biologie und Neurowissenschaften studiert. Seit 2002 ist er Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem dem menschlichen Lernverhalten, der Musikverarbeitung im Gehirn und den neurophysiologischen Grundlagen des Hörens und Fühlens. Seine Publikationen gehören zu den meistzitierten neurowissenschaftlichen Arbeiten. Jäncke ist verheiratet, Vater von zwei Söhnen und Schweizer Staatsbürger.


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